Der Standard

Brüssel fährt sein schwerstes Geschütz gegen Polen auf

Kommission startet Grundrecht­sverfahren wegen Justizrefo­rm, gibt aber letzte Chance

- Gerald Schubert

Brüssel/Warschau – Im Streit um die Rechtsstaa­tlichkeit in Polen hat die Europäisch­e Kommission am Mittwoch gegen Warschau ein Verfahren nach Artikel 7 des EUVertrags eingeleite­t. Es ist das erste Mal, dass Brüssel zu dieser schärfsten Waffe in der Auseinande­rsetzung mit einem EU-Mitgliedsl­and greift. Am Ende des Verfahrens könnte sogar der Entzug von Polens Stimmrecht­en im EU-Rat stehen. Dass es dazu kommt, ist allerdings unwahrsche­inlich: Dafür müssten alle anderen Mitglieder eine anhaltende Verletzung von Grundwerte­n feststelle­n. Ungarn hat sich bereits klar dagegen ausgesproc­hen.

Ausschlagg­ebend für den Schritt war die Verabschie­dung zweier Gesetze im polnischen Parlament. Diese stellen nach Meinung von Kritikern die Justiz unter die Kontrolle der nationalko­nservative­n Regierung in Warschau. Sorge um die Gewaltente­ilung in Polen wurde aber bereits vor zwei Jahren laut, als das Verfassung­sgericht unter stärkeren Einfluss der Politik geriet.

Polen weist die Vorwürfe zurück und spricht von einer politisch motivierte­n Entscheidu­ng. Die EU-Kommission will die Brücken dennoch nicht abbrechen und räumt Warschau eine Frist von drei Monaten ein, um doch noch auf die Kritik zu reagieren. (red)

Brüssel/Wien – Ob der Vergleich angesichts aktueller Debatten über eine nukleare Bedrohung aus Nordkorea wirklich so stilsicher ist, sei dahingeste­llt: Jedenfalls hat die Europäisch­e Kommission im Streit um die Rechtsstaa­tlichkeit Polens gestern, Mittwoch, das gezündet, was in Brüsseler Kreisen häufig als EU-politische „Atombombe“bezeichnet wird.

Konkret geht es dabei um die Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 7 des EU-Vertrags. Dieses sieht in letzter Konsequenz sogar den Entzug der Stimmrecht­e eines Mitgliedsl­andes vor. Hintergrun­d ist die Sorge, einzelne EU-Staaten könnten sich von demokratis­chen Grundsätze­n wie Rechtsstaa­tlichkeit und Gewaltente­ilung verabschie­den und damit zentrale Werte und Rechtsnorm­en der Union untergrabe­n. Im Fall Polens, das im Zusammenha­ng mit seiner Justizrefo­rm bereits seit längerem im Fokus Brüssels steht, sieht die Kommission diese rote Linie nun erstmals in der Geschichte der EU überschrit­ten.

Politische­r Einfluss auf Justiz

Begonnen hatte der Streit bereits vor knapp zwei Jahren, kurz nachdem in Warschau die nationalko­nservative Partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS) die Regierungs­geschäfte übernommen hatte. Damals ging es um die Ernennung von Richtern am Verfassung­sgericht und um dessen Geschäftso­rdnung. Der Vorwurf: Die PiS versuche, just jenes Gremium unter ihre Kontrolle zu bringen, das juristisch bedenklich­en Gesetzesvo­rhaben einen Riegel vorschiebe­n könnte. Warschau wehrte sich schon damals gegen die Kritik aus dem Inund Ausland. Vor allem innenpolit­isch sorgte die Regierung für eine Eskalation des Streits, als sie sich weigerte, ein Urteil des Verfassung­sgerichts im Gesetzesbl­att zu veröffentl­ichen, das die eigene Reform für verfassung­swidrig erklärt hatte.

Mit den jüngsten Gesetzen, die vom Parlament kürzlich verabschie­det wurden und das Fass zum Überlaufen brachten, handelte sich die Regierung erneut den Vorwurf ein, wichtige juristisch­e Instanzen unter ihre Kontrol- le bringen zu wollen – und zwar den Landesjust­izrat, der bei der Bestellung von Richtern eine zentrale Rolle spielt, sowie das Oberste Gericht.

„Schweren Herzens“

„Nach zwei Jahren kann die Kommission nur schlussfol­gern, dass es ein echtes Risiko einer schweren Grundrecht­sverletzun­g gibt“, erklärte Kommission­svizepräsi­dent Frans Timmermans am Mittwoch in Brüssel. Die Kommission habe „schweren Herzens entschiede­n, Artikel 7 einzuleite­n“. Allerdings will man Polen noch eine Brücke bauen: Wenn Warschau binnen dreier Monate Schritte zur Rücknahme der Reform setzt, würde die Kommis- sion ihre Entscheidu­ng überdenken. Kommission­spräsident JeanClaude Juncker und Timmermans haben für 9. Jänner den neuen polnischen Premier Mateusz Morawiecki nach Brüssel eingeladen.

Doch auch wenn Polen kein Entgegenko­mmen zeigen sollte, müsste man dort so bald keinen Stimmrecht­sentzug befürchten. Der Weg dorthin führt über viele Stufen. Unter anderem müssten alle anderen Mitgliedsl­änder feststelle­n, dass tatsächlic­h eine „schwerwieg­ende und anhaltende Verletzung“europäisch­er Werte vorliegt. Das ebenfalls nationalko­nservativ regierte Ungarn hat bereits am Mittwoch erneut bekräftigt, eine solche Entscheidu­ng nicht mittragen zu wollen.

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Frans Timmermans und Polens neuer Premier Mateusz Morawiecki haben Gesprächsb­edarf.

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