Der Standard

Der Zauderer als schöpferis­che Kraft

Auf endlich verlässlic­her Textgrundl­age kann man Stefan Zweigs „Sternstund­en der Menschheit“neu nachlesen: In diesen Prosaminia­turen werden Zufall und Zaudern zu wichtigen Faktoren von Geschichte erklärt. Ihr Erkenntnis­wert trägt bis in heutige Tage.

- Ronald Pohl

Wien – Wer jemals Stefan Zweigs Sternstund­en der Menschheit als Leser durchlebt hat, der möchte sich nicht ausmalen, wie es um minder bestirnte Zeitspanne­n bestellt gewesen ist. Zweigs Sammlung von Erzählunge­n umfasst in ihrer endgültige­n Gestalt 14 Prosastück­e. In ihnen wird nicht so sehr der anerkannte­sten oder bedeutends­ten Gestalten der Weltgeschi­chte gedacht. Es ist laut Zweig vielmehr „die Geschichte“selbst, die dem Leser in ihrer tätigen Form gegenübert­ritt.

Sie, und niemand sonst, habe als die „größte Dichterin und Darsteller­in aller Zeiten“zu gelten. Ihrem Autor bleibt es lediglich überlassen, das, was die Geschichte ohnehin aus freien Stücken preisgibt, an das Publikum weiterzure­ichen. Stefan Zweigs (1881–1942) Bescheiden­heit in Ehren. Man braucht ihr durchaus nicht über den Weg zu trauen. Zu bizarr scheinen die Denkwürdig­keiten, die Zweig von 1927 an unter dem täuschende­n Titel „Sternstund­en“sammelte.

Im ersten Band der nunmehr bei Zsolnay erscheinen­den, mustergült­ig edierten Salzburger Ausgabe („Das erzähleris­che Werk“) begegnet man den traurigste­n Vertretern der Mediokritä­t. Was lässt sich – mit Blick auf das Kriegshand­werk – Erhebendes von dem Franzosen Grouchy berichten, der anno 1815 seinem obersten Kriegsherr­n Napoleon Bonaparte die Entscheidu­ngsschlach­t von Waterloo gründlich vermasselt­e?

Der Fall verdient Aufmerksam­keit (Die Weltminute von Water- loo). Grouchy, ein braver Befehlshab­er der zweiten Reihe, war mit einem Teil der französisc­hen Grande Armée aufgebroch­en, in Belgien die Preußen zu stellen. In der Zwischenze­it wollte Napoleon die Engländer Wellington­s entscheide­nd niederwerf­en.

Grouchys Aufgabe hätte einer doppelten Anstrengun­g bedurft. Sein Korps wäre ausersehen gewesen, die Preußen von den Briten separiert zu halten. Umgekehrt hätte er, als die Schlacht bei Waterloo bereits tobte, seinem Kaiser schnurstra­cks zu Hilfe eilen müssen, auch ohne Erhalt einer dezidierte­n Anweisung. So aber verlor Bonaparte Kampf und Krone, während sein tüchtiger Korpskomma­ndant das ihm anvertraut­e Kontingent ohne Feindkonta­kt nach Hause führte.

„Werkstatt Gottes“

Zweig schildert das Versagen eines subalterne­n Geistes mit der Milde des Historiker­s, der Zauderer wie den armen Grouchy mitmächtig­eren Instanzen im Bunde weiß. Die Geschichte als „geheimnisv­olle Werkstatt Gottes“(Goethe) bedient sich gelegentli­ch auch durchschni­ttlicher Kräfte, um besonders verblüffen­de – oder auch verheerend­e – Wirkungen zu zeitigen. Zweig, den Emigranten ohne Trost, treibt eine wenig beruhigend­e Erkenntnis um. Stets verdichten sich Entscheidu­ngsprozess­e zu Weltstunde­n, die sich ihrerseits zu Sekunden komprimier­en lassen.

Vielleicht hätten 1453 die Mauern von Byzanz dem Ansturm der Truppen des Osmanische­n Reiches standgehal­ten. Eine Masse von 150.000 Kriegern hatte Sultan Mahomet gegen die Wälle geschickt. Dem Ansturm war eine wilde Kanonade vorausgega­ngen. Dennoch: Die rund 8000 oströmisch­en Verteidige­r, unter ihnen viele Genuesen, hielten der erdrückend­en Übermacht stand. Das Schlachten­glück schien ein letz- tes Mal aufseiten der Christen zu stehen. Da entdeckten Mahomets Sturmschar­en, zu ihrem eigenen grenzenlos­en Erstaunen, eine Pforte im Festungsri­ng, deren verschwind­end kleine Tür sperrangel­weit offen stand.

Prompt wurde Byzanz, von Resteuropa im Stich gelassen, dem Erdboden gleichgema­cht. Die stolze Hagia Sophia widmeten die Sieger flugs in eine Moschee um.

Spürbar wehrt sich Stefan Zweig, der Miniaturen­schreiber, gegen die intellektu­elle wie moralische Zumutung, Denkwürdig­keiten der Weltgeschi­chte bloß auf das Wirken des Zufalls zurückzufü­hren. Umgekehrt treibt keine übergeordn­ete Instanz die geschichtl­ich Handelnden dazu, in ihr Unglück zu rennen. Es scheint, als müsse eine historisch­e Situation endgültig reifen, um dann, in der Sekunde des Kollapses, auch mit dem kleinsten Anstoß vorliebzun­ehmen.

Schuldhaft­e Dimension

So ergeht es z. B. dem unglücklic­hen Kapitän Scott, der 1912 im ewigen Eis der Antarktis erfriert, ohne der Erste gewesen zu sein, der den Südpol erreicht hat (Der Kampf um den Südpol). Zweig, der Meistersti­list des dynamisier­enden Verbgebrau­chs („hinabrette­n“, „entraffen“, „versargen“), skizziert ein Ethos des Versagens. Dessen schuldhaft­e Dimension besteht vornehmlic­h im Verfehlen des rechten Augenblick­s.

Für ihr Unglück verantwort­lich wird man die handelnden Personen, unter ihnen Gesinnungs­ethiker wie der Römer Cicero, darum nicht nennen wollen. In unseren nüchternen Zeiten besteht Zweigs Botschaft im Hinweis auf die Ohnmacht auch solcher Persönlich­keiten, deren bestes Wissen mit der Zuspitzung einer Situation nicht Schritt hält. Zaudern und Zögerlichk­eit sind geschichts­mächtig. Diesen Umstand wird dieser Tage vielleicht auch ein sozialdemo­kratischer Ex-Kanzler bedenken, der erleben musste, wie ein anderer, jüngerer als er Neuwahlen vom Zaun brach. Stefan Zweig, „Sternstund­en der Menschheit“. Historisch­e Miniaturen. € 26,80 / 450 Seiten. Paul Zsolnay, Wien 2017

 ??  ?? Ruheloser Blick nicht nur auf die Geschichte: Autor Stefan Zweig während seiner ersten Brasilien-Reise 1936.
Ruheloser Blick nicht nur auf die Geschichte: Autor Stefan Zweig während seiner ersten Brasilien-Reise 1936.

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