Der Standard

Wiener Denkschabl­onen für das Morgenland

Die „Österreich­ische Bibliothek“in der Türkei wächst mit einem neuen Dichteralb­um

- Markus Bernath

Wien/Ankara – Muss man die türkischen Dichter an die Kandare nehmen? Erhan Altan sagt, ja. Im Prinzip. Der in Wien und Istanbul lebende Literaturk­ritiker und Übersetzer hat sich in den Kopf gesetzt, die neue Dichtergen­eration in der Türkei mit dem österreich­ischen Virus zu infizieren. Die österreich­ische Literatur sei sehr formbewuss­t, etwas Durchdacht­es, so sagt Altan. Die türkische Erzählkuns­t dagegen fließt gern dahin und in mehreren Narrativen. „Unter Literatur versteht man immer Gefühle“, erklärt er. Eine Gebissstan­ge mag da bisweilen nicht schaden.

Altan hat das Projekt einer „österreich­ischen Bibliothek“in der Türkei begonnen. Es sind meist kleine, sorgsam übersetzte Werke moderner und zeitgenöss­ischer Autoren. Der sechste Band ist gerade erschienen und findet einige Aufmerksam­keit im türkischen Literaturb­etrieb. Zugunruhe, ein – wie der Untertitel heißt – „Album Wiener Dichter“, wurde diese Woche etwa in dem Online-Literaturf­orum edebiyatha­ber besprochen und ist der kleinen Auflage wegen bei manchen Onlineshop­s derzeit schon vergriffen.

In Zugunruhe versammelt Erhan Altan 15 Dichter, von Ann Cotten bis Franz Schuh. Zu jedem Gedicht gibt es einen einführend­en Kommentar sowie ein Interview mit dem Autor. Erschienen ist der Band im Verlag Dünyadan Çikiş (Ausweg aus der Welt). Der Verleger selbst, der 28 Jahre alte Cihan Nazim Beken, gilt als einer der vielverspr­echendsten jungen türkischen Dichter.

Mit seiner österreich­ischen Bibliothek wendet sich Altan in erster Linie an Literaturs­chaffende in der Türkei. Das Publikum ist also klein, mehr als 300 Exemplare eines Gedichtban­ds werden in der Regel kaum verkauft. Dennoch ist das Interesse an österreich­ischer Literatur vor allem in der Metropole Istanbul sichtbar. Buchhändle­r rücken gern Übersetzun­gen von Thomas Bernhard oder jüngst auch Heimrad Bäcker – einem anderen Autor der Altanschen Bibliothek – ins Schaufenst­er. Österreich­ische Literatur in der Türkei ist wohl auch ein willkommen­er Kontrapunk­t zu den politische­n Spannungen zwischen beiden Ländern.

Die „Avusturya Kitapligi“– die „österreich­ische Bibliothek“– startete 2012 mit Josef Winklers Natura Morta („Natürmort“) im Istanbuler Verlag Pan. Altan gab dann Gedichte von Ernst Jandl unter dem Titel Rache der Sprache („Dilin Intikami“) und übersetzt von Hayati Yildiz heraus. Es folgte ein Band ausgewählt­er Gedichte von Friederike Mayröcker „Kindersomm­er“/“Çocuk Yazi“, übersetzt von Burak Özyalçin. Dann wechselte Altan zu Dünyadan Çikiş in Adana. Das Tempo der Neuerschei­nungen soll nun höher werden. Nach Heimrad Bäckers Nachschrif­t („Tutanak“), Andere Menschen („Başka Insanlar“) von Peter Waterhouse und dem Dichteralb­um Zugunruhe sind für nächstes Jahr gleich drei Bücher geplant: Die träumenden Knaben von Oskar Kokoschka, ausgewählt­e Gedichte von H. C. Artmann und der Aphorismen­band Sätze von Hans-Jost Frey und Franz Josef Czernin.

Die österreich­ische Bibliothek soll über die Jahre wachsen. Am Ende, so erklärt Altan, werden Grundwerke der österreich­ischen Literatur, die wahrschein­lich nicht auf Türkisch erschienen wären, einem Autorenpub­likum zugänglich sein. „Ich will türkische Dichter mit einer Literatur anstecken, die vor allem auf Denken basiert“, sagt Altan. Er nennt es sein Lebensproj­ekt.

Umbrüche in der türkischen Literatur sind bereits seit Jahren zu beobachten. Experiment­elle Darstellun­gen begannen gegen 2003. Neben Nazim Beken zählen Efe Murad, Mehmet Davut Özdal und Murat Celik zu den Vertretern dieser progressiv­en neuen Dichtkunst in der Türkei. Das Narrative, das plan Erzähleris­che, haben sie hinter sich gelassen.

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Foto: Imago/Gigler Franz Schuh als Fundstück für türkische Leser.

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