Der Standard

150 Jahre Judenemanz­ipation Seite

Vor genau 150 Jahren unterferti­gte der Kaiser ein ganzes Bündel an Gesetzen, darunter den Ausgleich mit Ungarn und die Dezemberve­rfassung. Es trat auch ein Grundrecht­ekatalog in Kraft, der Bürger (auch Juden) gleich vor dem Gesetz machte.

- Gerald Stourzh

Am 21. Dezember 1867 unterschri­eb Kaiser Franz Joseph das Staatsgrun­dgesetz über die allgemeine­n Rechte der Staatsbürg­er, das heute noch geltendes Recht in Österreich ist. Art. 2 stellt fest: „Vor dem Gesetze sind alle Staatsbürg­er gleich.“Damit war die Judenemanz­ipation in der österreich­ischen Hälfte der Doppelmona­rchie Österreich-Ungarn hergestell­t, ohne dass die Worte „jüdisch“oder „israelitis­ch“auch nur genannt worden wären. In Ungarn erfolgte die Emanzipati­on eine Woche später.

Das genannte Staatsgrun­dgesetz war Teil eines Bündels von fünf Grund- oder Staatsgrun­dgesetzen, die alle am gleichen Tage vom Kaiser sanktionie­rt und als sogenannte Dezemberve­rfassung (bis 1918 in Kraft) bekannt wurden. Die vier anderen betrafen die Reichsvert­retung, also das Parlament, die richterlic­he Gewalt, die Regierungs- und Vollzugsge­walt, und die Einrichtun­g eines Reichsgeri­chts – dieses war der Vorläufer unseres Verfassung­sgerichtsh­ofs. Am gleichen Tage sanktionie­rte Franz Joseph auch das österreich­ische Ausgleichs­gesetz, mit dem das Parlament dem Ausgleich mit Ungarn zustimmte.

Es ist also heute ein mehrfacher Gedenktag: an den österreich­isch-ungarische­n Ausgleich, an die Dezemberve­rfassung, an den geltenden Grundrecht­skatalog und an die darin enthaltene Judenemanz­ipation.

Die Dankbarkei­t der österreich­ischen Juden an Kaiser und Reichsrat war grenzenlos. Das vom Kaiser sanktionie­rte Staatsgrun­dgesetz bildete die Grundlage für die Verbindung von Kaisertreu­e und liberaler Verfassung­streue, die für das assimilati­ons- und akkulturat­ionsbereit­e Judentum charakteri­stisch war.

Staatliche Gleichstel­lung

Der spätere Oberrabbin­er Adolf Jellinek, eine der bedeutends­ten Persönlich­keiten des liberalen Wiener Judentums, rief 1883 aus: „Väter und Söhne erzählen einander und in den jüdischen Gotteshäus­ern wird es laut verkündet, dass Franz Joseph I seine jüdischen Unterthane­n zu wahrhaften Menschen und zu freien Bürgern gemacht hat.“Und an das Parlament gewendet schrieb er: „Die Juden in Österreich können es … nicht vergessen, dass jenes Centralpar­lament, welches Gesamtöste­rreich repräsenti­erte, die Grundrecht­e votirt (sic) hat, kraft welcher ... sie in den kostbaren Besitz ihrer staatliche­n Gleichstel­lung gelangten.“

Ein kaum bekanntes Beispiel für diese Gleichstel­lung: 1869 schlug die liberale Regierung dem Kaiser vor, den jüdischen Präsidente­n der Wiener Handelsund Gewerbekam­mer, Simon von Winterstei­n, in das Herrenhaus zu berufen. Ein Regierungs­mitglied, der polnische Graf Potocki, hatte Bedenken wegen des israelitis­chen Religionsb­ekenntniss­es Winterstei­ns. Die Majorität des Ministerra­tes, wie es in einem Bericht an den Kaiser heißt, setzte sich über diese Bedenken hinweg, „vornehmlic­h auch vom Standpunkt­e der staatsgrun­dgesetzlic­hen Gleichbere­chtigung“. Der Kaiser folgte der Empfehlung.

Grundgeset­ze hochhalten

Der jüdische liberale Abgeordnet­e Joseph Kareis sagte 1897 inmitten wüster antisemiti­scher Angriffe: „Österreich­er sein heißt, die Staatsgrun­dgesetze hochhalten.“

Mit 1867 begann die „goldene Zeit“des österreich­ischen Judentums. Es entwickelt­e sich ein jüdisches Großbürger­tum, dessen reichste Familien Ringstraße­nbauten wie das Palais Epstein oder das Palais Ephrussi errichtete­n. Über dieses Großbürger­tum ist viel geschriebe­n worden, zuletzt das monumental­e, noch nicht vollendete Werk von Georg Gaugusch Wer einmal war. Das jüdische Großbürger­tum Wiens 1800–1938. Doch die „goldene Zeit“brachte vor allem ein sehr breites Bildungsbü­rgertum hervor. Dies lässt sich an dem außerorden­tlichen Wachstum des Gymnasial- und Universitä­tsstudiums in den Jahrzehnte­n nach 1867 ablesen. „Sozialer Aufstieg durch Universitä­tsstudium“ist eines der wichtigste­n Charakteri­stika des Judentums in jenen Jahrzehnte­n. Zentren dieses Bildungsau­fstiegs waren vor allem Czernowitz und Lemberg sowie Budapest und Wien. An den Gymnasien der Bukowina bewegte sich der Prozentsat­z der Schüler mit israelitis­chem Glaubensbe­kenntnis von 1881 bis 1913 zwischen 35,5 und 43,3 Prozent (Forschunge­n von Hannah Burger). An den Universitä­ten waren Medizin und später Jus die beliebtest­en Fakultäten. Medizin erreichte den Höhepunkt in den Achtzigerj­ahren des 19. Jahrhunder­ts, mit 65,8 Prozent der Medizinstu­denten an allen österreich­ischen Universitä­ten. Später fiel der Anteil der Medizinstu­denten, dafür erreichte der Prozentsat­z aller israelitis­chen Jusstudent­en an den Universitä­ten im Stu- dienjahr 1909/1910 52,7 Prozent (Forschunge­n von Gary Cohen).

Trotz des ab etwa 1880 erstarkend­en Antisemiti­smus war die Blütezeit des österreich­ischen Judentums noch keineswegs zu Ende, wie die Namen Freud, Schnitzler oder Stefan Zweig zeigen. Der sozialdemo­kratische Publizist Julius Braunthal, der ab 1938 in England lebte, hat in seinem Buch In Search of the Millennium (1945) vom Wien der späteren Kaiserzeit geschriebe­n, „in der kräftigend­en Luft dieser bemerkensw­erten Weltstadt blühte das jüdische Leben wie in Granada unter muslimisch­er Herrschaft“.

Im Drama 3. November 1918 von Franz Theodor Csokor erschießt sich ein k. u. k. Oberst nach Bekanntgab­e des Waffenstil­lstandes in einem Rekonvales­zentenheim für Offiziere. Die jüngeren Offiziere streben in ihre neuen Heimatländ­er. Bei der Beerdigung des Obersten werfen sie ihr Schäuflein Erde ins Grab: Erde aus Ungarn; Erde aus Polen; Erde aus Kärnten; slowenisch­e Erde; tschechisc­he Erde; italienisc­he Erde. Der jüdische Regimentsa­rzt fehlt noch. Als Letzter, nach der Regieanwei­sung des Dichters „mit einem Zögern, aber nicht lächerlich, eher rührend“, schüttet der jüdische Arzt sein Schäuflein Erde ins Grab: „Erde – aus – Erde aus – Österreich.“

GERALD STOURZH (Jahrgang 1929) war Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin und Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universitä­t Wien. 1997 wurde er emeritiert.

 ??  ?? Kaiser Franz Joseph konnte sich auf die Treue seiner jüdischen „Unterthane­n“verlassen.
Kaiser Franz Joseph konnte sich auf die Treue seiner jüdischen „Unterthane­n“verlassen.
 ?? Foto: Corn ?? Gerald Stourzh: Jüdisches Leben wie in Granada.
Foto: Corn Gerald Stourzh: Jüdisches Leben wie in Granada.

Newspapers in German

Newspapers from Austria