Der Standard

Gans schön festlich

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Ob es der Gans lieber wäre, in einem unbeobacht­eten Moment vom Fuchs gestohlen zu werden oder am Weihnachts­tag als herrlich duftender Braten auf dem sich biegenden Tisch zu landen? Wahrschein­lich würde sie sich für Letzteres entscheide­n, hätte sie eine realistisc­he Wahl. Es kann aber auch sein, dass wir uns das einfach schönreden und ein verklärtes Bild haben vom knusprigen Vogel, der gebettet auf Rotkraut und umhüllt von flaumigen Knödeln leise sagen will: „Danke, dass ihr mich nicht dem Fuchs überlassen habt.“

Die Gans hätte es freilich auch schlimmer treffen können. Als lebenslang monogam lebendes Tier kann so ein Gänseleben auf Dauer nämlich sehr trist sein. Jeden Tag dieselbe Wiese, jedes Mal das gleiche öde Liebesspie­l mit demselben Ganterich. Da ist ein letzter Ausflug in die romantisch heile Welt des weihnachtl­ichen Familienes­sens wohl verlockend­er. Wobei völlig frei von Zweifel wird das Federvieh auch in diesem Fall nicht sein. Kurz bevor der Moment kommt, da sich der Vater mit dem viel zu kleinen Rentierpul­lover am Leib von seinem Sessel erhebt, mit brummender Stimme zur Ruhe mahnt und zum ersten Tranchiers­chnitt ansetzen will, weilt die Gans friedlich im Gusseisen und fragt sich, ob jener Familienpa­tron ebenso monogam gelebt habe wie sie. Die Vermutung liegt nahe, würde doch sonst er im Bräter auf dem festlich gedeckten Tisch liegen.

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