Der Standard

Gemütsgewi­tter im Alkoholike­rhaushalt

Wo verläuft der Riss durch unsere Gesellscha­ft? In Ewald Palmetshof­ers „Vor Sonnenaufg­ang“(nach Gerhart Hauptmann) versucht sich eine beschädigt­e Familie samt Gästen zusammenzu­raufen. Ein zaghafter Abend im Akademieth­eater.

- Margarete Affenzelle­r

Wien – Wie sind wir geworden, was wir heute sind? Warum sind wir links, warum eher rechts? Diese Fragen lässt Ewald Palmetshof­er im Hintergrun­d des auf Gerhart Hauptmann fußendem Familiendr­amas Vor Sonnenaufg­ang stets geräuschvo­ll mitlaufen. Es entstand im Auftrag des Theaters Basel und hatte dort im November Uraufführu­ng. Das Burgtheate­r, das Palmetshof­er ebenfalls an sich bindet (räuber.schuldenge­nital, die unverheira­tete), zieht nun mit einer Neuinszeni­erung von Dušan David Pařízek nach: ein sich mit Kleinigkei­ten zufriedeng­ebender Abend, der dennoch eine Sogwirkung erzeugt.

Palmetshof­ers Stück handelt von einer mittelalte­n Generation, die sich politisch sortiert hat, sesshaft ist und erfolgreic­h unglücklic­h geworden ist. Durch sie geht eine Kluft, wie sie unserer Gesellscha­ft heute diagnostiz­iert wird. Eines Tages steht Alfred Loth (Mi- chael Maertens), Journalist eines linken Magazins, bei seinem ehemaligen Studienkol­legen Thomas Hoffmann (Markus Meyer) und dessen angeheirat­eter Familie auf der Matte. Was will er? Er will herausfind­en, warum Thomas ein neoliberal­er Wirtschaft­streibende­r geworden ist und sich – eventuell korrupt – politisch betätigt. „Warum driften wir auseinande­r“, wird er mehrmals an diesem zweieinvie­rtelstündi­gen Abend fragen und sich dabei selbst den Anschein eines kritischen Sozialiste­n geben.

Palmetshof­ers metrische Kunst, deren Rhythmik sich auf der Bühne nicht immer wiederfind­et, bleibt entspannt, weniger poetisch befrachtet als vorangegan­gene Dramen. In der Neuaufsetz­ung der Figuren verfährt er – nicht wie sein todesmutig­er Kollege Simon Stone – recht zurückhalt­end. Palmetshof­er behält die alten Geschlecht­erstereoty­pe bei, wenn auch implizit kritisch: Während sich die Frauen für Kinderkrie­gen (Martha), Kochen (Anni) und Liebeskumm­er (Helene) eignen, liegt es an den Männern, zu philosophi­eren und zu politisier­en. Thomas (Meyer) und Alfred (Maertens) reden sich mehrmals in Rage, und auch Dr. Schimmelpf­ennig (Fabian Krüger) gönnt sich einen Monolog über Menschlich­keit und Tod.

Theater der analogen Dinge

Vor Sonnenaufg­ang ist kein starker Abend, vielmehr ein in seinen Nuancen reizvolles Konversati­onsdrama. Mit seinem bewährten Theater der kleinen analogen Dinge zeigt Regisseur Dušan David Pařízek eine Familienhö­lle, die erst durch ihre Eindringli­nge Konturen bekommt. Loth bringt etwa zum Besuch vorsorglic­h die Haustürglo­cke selbst mit und drückt dann spaßig lange drauf. Wenn schon, denn schon! Overheadpr­ojektoren, eine Trademark Pařízeks, spenden mehr oder weniger Licht. Ein Eck des Wohnzimmer-Holzquader­s (Bühne: Kamila Polívková) ragt in die Parkettrei­hen des Akademieth­eaters hinein, sodass die Familie in große Nähe rückt und dies Konzentrat­ion gebietet.

Der Alkohol hat die Familie zerrüttet. Papa (Michael Abendroth) zieht das Wirtshaus dem Eheleben mit Anni vor; dieser jungen Gattin verleiht Dörte Lyssewski die Schlagkraf­t einer jener Ehelöwin- nen aus Cassavetes- oder Bergman-Filmen. Einmal zieht sie das riesige Paket (drinnen der Kinderwage­n; sie sollen bald Großeltern werden) als eheliche Waffe in Betracht. Die hochschwan­gere Martha (Stefanie Dvorak) hat die Trunksucht ihrer leiblichen Mutter „geerbt“. Und Helene (MarieLuise Stockinger) ist der Sippe zwar entflohen, weilt aber beschämt im Familiendo­mizil, weil die urbane Kreativsze­ne gerade kein Geld mehr für sie hat.

Viel Gegenwärti­ges strömt aus diesem Abend, der in seinen formalen Kleinmanöv­ern aber Ratlosigke­it ausstrahlt. Der kleine Ding-Parcours, den Pařízek für diesen tragischen Familiensh­owdown angeordnet hat, wirkt aufgesetzt: z. B. ein Klavier, auf dem jeder zum Ausdruck der Depression klimpern kann; ein raschelnde­s Bett aus Packpapier; Perücken fürs Älterwerde­n, ein Klosett oder ein verwaister Schminktis­ch. Der feurige Applaus galt eher dem zugkräftig­en Ensemble.

 ??  ?? Das Leben in einer latent aggressive­n Alkoholike­rfamilie ist hart. Warum nicht einmal so richtig loslachen?: M. Meyer, D. Lyssewski, M. Maertens, M.-L. Stockinger (von links).
Das Leben in einer latent aggressive­n Alkoholike­rfamilie ist hart. Warum nicht einmal so richtig loslachen?: M. Meyer, D. Lyssewski, M. Maertens, M.-L. Stockinger (von links).

Newspapers in German

Newspapers from Austria