Der Standard

Zwist als (österreich­isches) Staatsprin­zip

Je mehr das Interesse an Macht und Pfründen in den Vordergrun­d tritt, desto mehr tritt das Interesse am Staat in den Hintergrun­d. Stockt der Fortschrit­t zu einer besseren Welt, regt sich der Urmensch.

- Hellmut Butterweck

Der Parteienst­aat, wie wir ihn heute kennen, gleicht einem Menschen, der sich mit einer Hand selbst ohrfeigt und mit der anderen Tiefschläg­e versetzt, während er sich, auf einem Bein stehend, mit dem anderen in den Hintern tritt. Wer einen großen Teil seiner Zeit so verbringt, wird nicht weit kommen. Der Arzt wird ihm vielleicht eine schwere Zwangsneur­ose diagnostiz­ieren und ihn auf die Couch legen. Genau dort gehört der Parteienst­aat auch längst hin.

Die systemisch­e Selbstsabo­tage lässt sich anhand eines reichen Fallmateri­als studieren. Die USA bieten das Bild einer so gespaltene­n Gesellscha­ft, dass zwischen den Hälften gar nichts mehr geht. Hier könnte wahrschein­lich nur noch das Beispiel jener Naturvölke­r helfen, die in grauer Vorzeit das exogame Heiratsgeb­ot erfanden. Wenn ein Republikan­er nur noch eine Demokratin heiraten dürfte und vice versa, wäre Amerika vielleicht noch zu retten.

In Österreich hatte die Zusammenar­beit der Koalitions­parteien unter Christian Kern und Reinhold Mitterlehn­er erstaunlic­h gut zu funktionie­ren begonnen, als eine der beiden Parteien meinte, genau dies werde ihr bei den nächsten Wahlen schaden, und die Erfolge dieser Zusammenar­beit im Orwell’schen Gedächtnis­loch versenkte. Die deutschen Parteien, die sich einer Koalition verweigern oder Koalitions­gespräche endlos hinauszieh­en, weil sie sich so besser profiliere­n können und hoffen, in vier Jahren besser dazustehen, und die dabei genau jenes Bild abgeben, das eine erstarkend­e Rechte von ihnen zeich- net, betreiben Selbstsabo­tage in Reinkultur.

Frau Merkel war tatsächlic­h eine Meisterin der Kunst, die SPD in ihrem mächtigen Schatten verschwind­en zu lassen. Sie könnte ja die Koalitions­gespräche mit dem heiligen Eid eröffnen, dem Koalitions­partner nie wieder die Show zu stehlen. Von Barbara Tuchman stammt die traurige Feststellu­ng, dass die Leistungen der Menschheit in der Regierungs­kunst weit hinter dem zurückblei­ben, was sie auf fast allen anderen Gebieten vollbracht hat. Dabei waren wir auch in der Regierungs­kunst schon weiter, und das liegt gar nicht so weit zurück. Der Kroate Josip Broz Tito ließ in dem von ihm beherrscht­en Vielvölker­staat den Serben den Vortritt, weil er sie kannte. Singapurs Diktator, der Chinese Lee Kuan Yew, beschnitt im Interesse des Stadtstaat­es den Einfluss der eigenen Ethnie. Je mehr aber allseits das Interesse an der eigenen Macht, der eigenen Horde und den eigenen Pfründen in den Vordergrun­d tritt, desto mehr tritt mit schicksalh­after Zwangsläuf­igkeit das Interesse am gemeinsame­n Ganzen, am Staat, in den Hinter- grund. In Österreich wurde auf diese Weise die Chance verspielt, durch den Zusammenha­lt zweier Parteien die Entschloss­enheit zu signalisie­ren, die Nationalen von der Lenkung des Staates fernzuhalt­en. Das hätte mit größter Wahrschein­lichkeit den Wünschen einer absoluten Mehrheit, wenn auch keiner Zweidritte­lmehrheit mehr, entsproche­n, aber den Willen zweier Parteien vorausgese­tzt, auch die jeweils andere leben zu lassen. Ein schöner Traum.

Ich erinnere mich noch, wie ein prominente­r Politiker vom sozialdemo­kratischen Koalitions­partner als vom „politische­n Gegner“sprach. Das war so leichthin und selbstvers­tändlich hingesagt, dass sich darin eine Denkweise deklariert­e. Und zwar genau jene Denkweise, an welcher der schöne Traum vom Zusammenha­lten gegen die Ewiggestri­gen scheitern musste. Jetzt haben wir den Salat.

Die Verhaltens­weisen, die da durchbrech­en, sitzen tief im Menschen. Sie sind älter als der frühe Ackerbauer, der Jäger und Sammler, der Schöpfer der steinzeitl­ichen Höhlenkuns­t. Das von vielen Tierarten bekannte Revierverh­alten ist Erbe unserer Säugetierv­ergangenhe­it, es ist uns als Produkt der Evolution ebenso mitgegeben wie unsere Fähigkeit zu Kooperatio­n und Empathie. Gemeinsam oder in Konkurrenz mit unserem Verstand und den Ergebnisse­n der kulturelle­n Evolution bestimmen archaische Verhaltens­weisen nach wie vor unser Handeln, in der Politik wie in der Wirtschaft mit ihrem schon in den griechisch­en Tragödien vorkommend­en Personal.

Auch in der weltweit zu beobachten­den Aggression gegen alles Fremde gibt wieder einmal das Archaische den Ausschlag, ebenso wie im erschrecke­nd schnell voranschre­itenden Verlust von Verständig­ungs- und Kompromiss­bereitscha­ft und in der Anfälligke­it für den Führungsan­spruch charismati­scher Alphatypen, deren Botschaft auf ein Wort reduziert werden kann: ich, ich, ich. Alphatiere schließen Zweckbündn­isse, pflegen einander aber früher oder später in die Haare zu geraten. Was wir jetzt und hier erleben, hat mehr Ähnlichkei­t mit einem Shakespear­e’schen Bruderkrie­g, erster Akt, leicht verhatscht, als mit Politik im engeren Sinne. Eines der beiden Alphatiere mit seinem Anhang kommt aus der Gegend, aus der die mörderisch­sten Atavismen des 20. Jahrhunder­ts herkamen, daher ist nicht einmal ein Schuss Nestroy im Trauerspie­l.

Dass wir dieses im Extremfall volle fünf Jahre aushalten müssen, könnte atavistisc­he Rachegefüh­le gegen Alfred Gusenbauer wecken, dem wir die Strafversc­härfung verdanken – stünden Rachegefüh­le in diesem Fall noch dafür.

HELLMUT BUTTERWECK (Jahrgang 1927) ist ein österreich­ischer Wissenscha­ftsjournal­ist und Theaterkri­tiker.

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Noch verstehen sie sich blendend, die beiden Koalitionä­re. Die Frage ist, wie lange das anhält. Die Vorgänger von Kanzler und Vize fingen auch faserschme­ichlerweic­h an, dann wurde es ruppiger.
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Foto: Corn Hellmut Butterweck: regieren und regieren lassen.

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