Zwist als (österreichisches) Staatsprinzip
Je mehr das Interesse an Macht und Pfründen in den Vordergrund tritt, desto mehr tritt das Interesse am Staat in den Hintergrund. Stockt der Fortschritt zu einer besseren Welt, regt sich der Urmensch.
Der Parteienstaat, wie wir ihn heute kennen, gleicht einem Menschen, der sich mit einer Hand selbst ohrfeigt und mit der anderen Tiefschläge versetzt, während er sich, auf einem Bein stehend, mit dem anderen in den Hintern tritt. Wer einen großen Teil seiner Zeit so verbringt, wird nicht weit kommen. Der Arzt wird ihm vielleicht eine schwere Zwangsneurose diagnostizieren und ihn auf die Couch legen. Genau dort gehört der Parteienstaat auch längst hin.
Die systemische Selbstsabotage lässt sich anhand eines reichen Fallmaterials studieren. Die USA bieten das Bild einer so gespaltenen Gesellschaft, dass zwischen den Hälften gar nichts mehr geht. Hier könnte wahrscheinlich nur noch das Beispiel jener Naturvölker helfen, die in grauer Vorzeit das exogame Heiratsgebot erfanden. Wenn ein Republikaner nur noch eine Demokratin heiraten dürfte und vice versa, wäre Amerika vielleicht noch zu retten.
In Österreich hatte die Zusammenarbeit der Koalitionsparteien unter Christian Kern und Reinhold Mitterlehner erstaunlich gut zu funktionieren begonnen, als eine der beiden Parteien meinte, genau dies werde ihr bei den nächsten Wahlen schaden, und die Erfolge dieser Zusammenarbeit im Orwell’schen Gedächtnisloch versenkte. Die deutschen Parteien, die sich einer Koalition verweigern oder Koalitionsgespräche endlos hinausziehen, weil sie sich so besser profilieren können und hoffen, in vier Jahren besser dazustehen, und die dabei genau jenes Bild abgeben, das eine erstarkende Rechte von ihnen zeich- net, betreiben Selbstsabotage in Reinkultur.
Frau Merkel war tatsächlich eine Meisterin der Kunst, die SPD in ihrem mächtigen Schatten verschwinden zu lassen. Sie könnte ja die Koalitionsgespräche mit dem heiligen Eid eröffnen, dem Koalitionspartner nie wieder die Show zu stehlen. Von Barbara Tuchman stammt die traurige Feststellung, dass die Leistungen der Menschheit in der Regierungskunst weit hinter dem zurückbleiben, was sie auf fast allen anderen Gebieten vollbracht hat. Dabei waren wir auch in der Regierungskunst schon weiter, und das liegt gar nicht so weit zurück. Der Kroate Josip Broz Tito ließ in dem von ihm beherrschten Vielvölkerstaat den Serben den Vortritt, weil er sie kannte. Singapurs Diktator, der Chinese Lee Kuan Yew, beschnitt im Interesse des Stadtstaates den Einfluss der eigenen Ethnie. Je mehr aber allseits das Interesse an der eigenen Macht, der eigenen Horde und den eigenen Pfründen in den Vordergrund tritt, desto mehr tritt mit schicksalhafter Zwangsläufigkeit das Interesse am gemeinsamen Ganzen, am Staat, in den Hinter- grund. In Österreich wurde auf diese Weise die Chance verspielt, durch den Zusammenhalt zweier Parteien die Entschlossenheit zu signalisieren, die Nationalen von der Lenkung des Staates fernzuhalten. Das hätte mit größter Wahrscheinlichkeit den Wünschen einer absoluten Mehrheit, wenn auch keiner Zweidrittelmehrheit mehr, entsprochen, aber den Willen zweier Parteien vorausgesetzt, auch die jeweils andere leben zu lassen. Ein schöner Traum.
Ich erinnere mich noch, wie ein prominenter Politiker vom sozialdemokratischen Koalitionspartner als vom „politischen Gegner“sprach. Das war so leichthin und selbstverständlich hingesagt, dass sich darin eine Denkweise deklarierte. Und zwar genau jene Denkweise, an welcher der schöne Traum vom Zusammenhalten gegen die Ewiggestrigen scheitern musste. Jetzt haben wir den Salat.
Die Verhaltensweisen, die da durchbrechen, sitzen tief im Menschen. Sie sind älter als der frühe Ackerbauer, der Jäger und Sammler, der Schöpfer der steinzeitlichen Höhlenkunst. Das von vielen Tierarten bekannte Revierverhalten ist Erbe unserer Säugetiervergangenheit, es ist uns als Produkt der Evolution ebenso mitgegeben wie unsere Fähigkeit zu Kooperation und Empathie. Gemeinsam oder in Konkurrenz mit unserem Verstand und den Ergebnissen der kulturellen Evolution bestimmen archaische Verhaltensweisen nach wie vor unser Handeln, in der Politik wie in der Wirtschaft mit ihrem schon in den griechischen Tragödien vorkommenden Personal.
Auch in der weltweit zu beobachtenden Aggression gegen alles Fremde gibt wieder einmal das Archaische den Ausschlag, ebenso wie im erschreckend schnell voranschreitenden Verlust von Verständigungs- und Kompromissbereitschaft und in der Anfälligkeit für den Führungsanspruch charismatischer Alphatypen, deren Botschaft auf ein Wort reduziert werden kann: ich, ich, ich. Alphatiere schließen Zweckbündnisse, pflegen einander aber früher oder später in die Haare zu geraten. Was wir jetzt und hier erleben, hat mehr Ähnlichkeit mit einem Shakespeare’schen Bruderkrieg, erster Akt, leicht verhatscht, als mit Politik im engeren Sinne. Eines der beiden Alphatiere mit seinem Anhang kommt aus der Gegend, aus der die mörderischsten Atavismen des 20. Jahrhunderts herkamen, daher ist nicht einmal ein Schuss Nestroy im Trauerspiel.
Dass wir dieses im Extremfall volle fünf Jahre aushalten müssen, könnte atavistische Rachegefühle gegen Alfred Gusenbauer wecken, dem wir die Strafverschärfung verdanken – stünden Rachegefühle in diesem Fall noch dafür.
HELLMUT BUTTERWECK (Jahrgang 1927) ist ein österreichischer Wissenschaftsjournalist und Theaterkritiker.