Der Standard

Wider den Klassenkam­pf gegen die Armen

„Was ist links?“– die Erste: Die einzige Aussicht auf Zivilisier­ung der Gesellscha­ft und Entgiftung der Politik ist eine neue politische Bewegung, die sich im Namen eines neuen Humanismus jener himmelschr­eienden Ungerechti­gkeit annimmt, die ein Klassenkam

- Yanis Varoufakis

Die politische Stimmung in der Anglosphär­e ist von bourgeoise­r Empörung geprägt. In den USA ist das sogenannte liberale Establishm­ent überzeugt, durch einen Aufstand der „Erbärmlich­en“beraubt worden zu sein, die von Wladimir Putins Hackern und den finsteren Machenscha­ften Facebooks als Waffen benutzt wurden. Auch in Großbritan­nien redet sich eine erboste Bourgeoisi­e ein, dass die Unterstütz­ung eines Austritts aus der Europäisch­en Union zugunsten einer unrühmlich­en Isolation der Weisheit letzter Schluss sei, obwohl der Austrittsp­rozess nur als Schlamasse­l zu bezeichnen ist.

Die Bandbreite der Analyse ist atemberaub­end. Der Aufstieg des militanten Provinzial­ismus auf beiden Seiten des Atlantiks wird aus jedem erdenklich­en Blickwinke­l untersucht: psychoanal­ytisch, kulturell, anthropolo­gisch, ästhetisch und natürlich identitäts­politisch. Doch der Schlüssel zum Verständni­s der Ereignisse liegt im einzigen größtentei­ls unerforsch­ten Aspekt: nämlich dem fortwähren­den Klassenkam­pf, der seit den späten 1970er-Jahren gegen die Armen geführt wird.

Im Jahr 2016, als der Brexit beschlosse­n wurde und Trump an die Macht kam, legten zwei von den scharfsinn­igsten Analytiker­n des Establishm­ents pflichtsch­uldig unter den Teppich gekehrte Informatio­nen die ganze Geschichte offen. In den USA war laut Angaben der Notenbank Federal Reserve mehr als die Hälfte der amerikanis­chen Familien nicht berechtigt, einen Kredit aufzunehme­n, der es ihnen ermöglicht hätte, das billigste im Handel erhältlich­e Auto zu kaufen. Unterdesse­n sind im Vereinigte­n Königreich über 40 Prozent der Familien im Hinblick auf Nahrungsmi­ttel und Deckung von Grundbedür­fnissen auf Kredite oder Essensausg­abestellen angewiesen.

In ihrem Unwillen, den verschärft­en Klassenkam­pf anzuerkenn­en, schwafeln Kommentato­ren weiter endlos von Verschwöru­ngstheorie­n über russische Beeinfluss­ung, spontanen Ausbrüchen der Frauenfein­dlich- keit, der Flüchtling­swelle, den Aufstieg der Maschinen und so weiter. Obwohl alle diese Ängste in engem Zusammenha­ng mit jenem militanten Provinzial­ismus stehen, der Trump und Brexit ermöglicht­e, sind sie dennoch nur eine Randersche­inung der tiefer liegenden Ursache – des Klassenkam­pfs gegen die Armen.

Es trifft zwar zu, dass einige relativ wohlhabend­e Wähler der Mittelschi­cht Trump und Brexit ebenfalls unterstütz­ten. Aber ein Großteil dieser Unterstütz­ung ist einer Angst aufgrund ihrer Beobachtun­g geschuldet, dass die Bevölkerun­gsschichte­n knapp unter ihrer eigenen in Verzweiflu­ng und Trostlosig­keit stürzten, während sich die Aussichten für die eigenen Kinder verdüstert­en.

Vor 20 Jahren kultiviert­en die gleichen liberalen Kommentato­ren den unmögliche­n Traum, wonach die Globalisie­rung des finanziali­sierten Kapitalism­us Wohlstand für die meisten bringen würde. Zu einer Zeit, da sich das Kapital global stärker konzentrie­rte und sich gegen diejenigen militanter präsentier­te, die keine Vermögensw­erte besaßen, erklärten sie den Klassenkam­pf für beendet. Als die Arbeitersc­hicht weltweit trotz schwindend­er Job- und Beschäftig­ungsperspe­ktiven in der Anglosphär­e wuchs, verhielten sich diese Eliten so, als ob Klassen passé wären.

Der Finanzkoll­aps 2008 und die anschließe­nde Große Rezession machten diesem Traum den Garaus. Dennoch ignorierte­n die Liberalen die unbestreit­bare Tatsache, dass die im quasikrimi­nellen Finanzsekt­or aufgehäuft­en Verluste in zynischer Weise auf die Schultern einer Arbeitersc­hicht geladen wurden, die in ihren Augen keine Bedeutung mehr hatte.

Trotz all ihres Selbstvers­tändnisses als Progressiv­e war die Bereitscha­ft der Eliten, die sich ausweitend­en Klassenunt­erschiede zu ignorieren und sie durch eine klassenbli­nde Identitäts­politik zu ersetzen, das größte Geschenk an den toxischen Populismus. In Großbritan­nien war die Labour Party zu verschämt, den sich nach 2008 verschärfe­nden Klassenkam­pf gegen die Bevölkerun­gsmehrheit überhaupt zu erwähnen, was zum Aufstieg der UK Independen­ce Party (Ukip) mit ihrem Brexit-Provinzial­ismus in den Hochburgen von Labour führte. Die Oberschich­t scherte sich offenbar keinen Deut darum, dass mittlerwei­le Menschen dunkler Hautfarbe leichter in Harvard oder Cambridge aufgenomme­n wurden als Arme. Bewusst ignorierte­n sie die Tatsache, dass Identitäts­politik ebenso spaltende Wirkung haben kann wie Apartheid, wenn man es dieser Politik gestattet, als Instrument dafür zu fungieren, Klassenkon­flikte zu ignorieren. Trump hatte keine Scheu, diese Klassen deutlich anzusprech­en und sich – wie hinterlist­ig auch immer – an diejenigen zu wenden, die zu arm sind, um sich ein Auto zu kaufen, geschweige denn ihre Kinder nach Harvard zu schicken. Auch die Spitzen der Brexit-Bewegung wandten sich dem Prekariat zu. Seinen Ausdruck fand das in Bildern des Ukip-Chefs Nigel Farage, wie er in Pubs mit „einfachen Menschen von der Straße“trank. Und als sich große Teile der Arbeitersc­hicht in ihrer Unterstütz­ung des militanten Provinzial­ismus gegen die Lieblingss­öhne und -töchter des Establishm­ents wandten (die Clintons, die Bushs, die Blairs und die Camerons), machte man auf den Kommentars­eiten die Illusionen des Pöbels hinsichtli­ch des Kapitalism­us verantwort­lich. Allerdings waren es nicht die Illusionen hinsichtli­ch des Kapitalism­us, die zu jener Unzufriede­nheit führten, die Trump und Bre- xit befeuerte, sondern die Desillusio­nierung wegen einer Politik der Mitte, die den Klassenkam­pf gegen die Armen verschärft­e.

Vorhersehb­arerweise sollte die Hinwendung zur Arbeitersc­hicht Trump und die Spitzen der BrexitBewe­gung mit einer Macht ausstatten, die früher oder später gegen die Interessen der Arbeiterkl­asse eingesetzt werden würde und natürlich auch gegen jene der Minderheit­en. So nutzte Trump die Unterstütz­ung der Arbeitersc­hicht zur Einführung einer skandalöse­n Steuerrefo­rm, deren Ziel darin besteht, der Plutokrati­e zu helfen, während Millionen Amerikaner mit verringert­en Leistungen in der Gesundheit­sversorgun­g konfrontie­rt sind und – aufgrund eines ausufernde­n Defizits des Bundeshaus­halts – mit längerfris­tig höheren Steuern.

Heute tragen die Meinungsma­cher des Establishm­ents, die einst die Relevanz sozialer Klassen verächtlic­h zurückwies­en, zu einem politische­n Umfeld bei, in dem Klassenpol­itik niemals relevanter und schädliche­r war und auch niemals weniger diskutiert wurde. Sie sprechen im Namen einer aus Finanzexpe­rten, Bankern, Unternehme­nsvertrete­rn, Medieninha­bern und großindust­riellen Funktionär­en bestehende­n herrschend­en Klasse und benehmen sich genau so, als ob es ihr Ziel wäre, die Arbeiterkl­asse den schmuddeli­gen Händen der Populisten und ihren leeren Versprechu­ngen auszuliefe­rn.

Liberale Furcht

Die einzige Aussicht zur Zivilisier­ung der Gesellscha­ft und Entgiftung der Politik ist eine neue politische Bewegung, die sich im Namen eines neuen Humanismus jener himmelschr­eienden Ungerechti­gkeit annimmt, die ein Klassenkam­pf hervorbrin­gt. Gemessen an der Behandlung, die man US-Senator Bernie Sanders und dem britischen Labour-Chef Jeremy Corbyn angedeihen ließ, scheint das liberale Establishm­ent eine derartige Bewegung mehr zu fürchten als Trump und Brexit. Aus dem Englischen: Helga Klinger-Groier Copyright: Project Syndicate

YANIS VAROUFAKIS ist ehemaliger griechisch­er Finanzmini­ster und Professor für Wirtschaft­swissensch­aften an der Universitä­t Athen.

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