Gegen den Geschmack holländischer Tomaten
Die Kluft zwischen den Verfechtern einer offenen, liberalen Kultur und jenen, die die eigene Identität betonen, ist größer denn je. Zwei aktuelle Bücher der Philosophen Guillaume Paoli und François Jullien suchen Auswege auf steilem Terrain.
Wien – Ein von der FPÖ umsorgtes Heimatschutzministerium wird es dank präsidialer Intervention nicht geben. Dennoch scheint hinter der EU-freundlichen Ummantelung der neuen Regierung ein anderes Kulturverständnis durch. Wie deutlich es in Konkordanz mit anderen Ländern in Europa zutage tritt, ist noch offen. Im Regierungsprogramm ist von der identitätsstiftenden Wirkung der Kultur die Rede, die man etwa im Gedenkjahr vertiefen möchte. Zugleich setzt man mit Verschärfun- gen im Bereich Asylpolitik auf eine „Versicherheitlichungspolitik“(Zygmunt Bauman), die Stärke qua Sicherheitsgefühl suggerieren will. Beides deutet auf kulturellen Rückzug hin.
Der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz hat zwei Formen der Kulturalisierung unterschieden, die für die Spätmoderne charakteristisch sind. Einerseits die Hyperkultur, welche für liberale Gesellschaften lange Zeit dominant war. Man erkennt sie an der Fahne der Diversität und des Kosmopolitismus, mithin an der einschließenden Ausrichtung. Alles kann Kultur werden und beginnt über die Herkunft hinaus zu zirkulieren, am deutlichsten sieht man das am Erfolg von WorldFood. Auf der anderen Seite steht der Kulturessenzialismus, eine Kultur des Identitären, die einen Werterhalt nach innen betreibt und Unterscheidungen betont: Volk gegen Eliten, die eigene Religion gegen Andersgläubige, aber auch die ethnische Community, die sich ihrer Gemeinschaftlichkeit versichert.
Reckwitz’ Unterscheidung hat den Vorteil der Nüchternheit, dennoch sieht er die beiden Kulturverständnisse in Konflikt miteinander. Die liberale Variante der Hyperkultur wurde zuletzt im Zeichen von Brexit und Wahlerfolgen wie jenem von Donald Trump geschwächt. Als Krise eines Liberalismus mit universellem Ehrgeiz und der damit verbundenen Lebenskultur ist sie gerade Thema von etlichen Sachbüchern – und oft wird daraus nur ein Rettungsversuch durch Eliten.
Der deutsch-französische Philosoph Guillaume Paoli geht es in seinem Buch Die lange Nacht der Metamorphose. Über die Gentrifizierung der Kultur (Matthes & Seitz) mehr aus der Sicht eines enttäuschten Linken an, der in der liberalen Hyperkultur eine Homogenisierung ortet, die mit einer Immunisierung von kritischem Denken einhergeht.
Klassenverachtung blieb
Seine Kritik richtet sich gegen die Gleichmacherei einer Kultur, die sich über das einst so bestimmende Klassenbewusstsein (und damit die Klassenverachtung) hinwegsetzt. „Proleten, die kein Englisch können, KZ-Hühnchen bei Aldi kaufen, RTL 2 schauen, sich am Stammtisch gegen die oben echauffieren und sexistische Witze reißen. Konservativ sind nur noch die Unterschichten. Rück- ständige Muslime. Wutbürger“, schreibt er in seinem typisch lapidaren Tonfall über all jene, denen der Zugang durch ihre kulturelle Rückständigkeit verwehrt bleibt.
Paoli beruft sich interessanterweise auf Pier Paolo Pasolinis bereits in den 1970ern formulierte Diagnose einer „anthropologischen Mutation“, um eine Vereinheitlichungskultur zu geißeln, die ihren Sinn für partikulare Sonderkulturen (wie etwa Dialekte) verloren hat. Die Neovariante betreibt eine „Vermittelständischung“, in der Vielfalt trotz Betonung von Singularitäten verloren geht. Den Zutritt reguliert ein Set an Verhaltensregeln, die Widerspruch nur bedingt dulden. Schnell wird man mit abweichenden Meinungen zum Ewiggestrigen gestempelt.
Paoli ist mehr ein Polemiker als Analytiker, was seinen Überlegungen zwar einige Unschärfen, aber auch einigen Witz verleiht. Etwa wenn er die belanglose „Selffiction“in der Literatur kritisiert, deren selbstbezüglicher Zugang längst auch im Journalismus grassiert. Oder wenn er den modernen Kosmopoliten als jemanden beschreibt, der zwar die Vielfalt für sich reklamiert, aber selbst nur so viel Eigengeschmack hätte wie eine holländische Tomate.
Einen Ausweg aus dem Dilemma Essenzialismus und Hybridkultur hat dagegen der französische Sinologe und Philosoph François Jullien parat. Sein Essay trägt den provokanten Titel Es gibt keine kulturelle Identität (Edition Suhrkamp). Jullien schärft und verändert die Begrifflichkeiten: Anstatt von Kultur schreibt er von Ressourcen, anstatt von Differenzen von Abständen.
Der Abstand (frz. écart) reduziert die beiden Positionen nicht auf ihre Reinheit, also auf das Wesenhafte und Identitäre, vielmehr mobilisiert er die Beziehung selbst: „Der eine hört nicht auf, sich im anderen zu entdecken, sich in der Gegenüberstellung sowohl zu erforschen als auch zu reflektieren.“
Jullien hat mit seinem Gegenvorschlag aber keineswegs nur die essenzialistischen Verfechter starrer kultureller Unterschiede im Sinn, sondern auch jene, die den Universalismus einer „globisch“sprechenden Welt propagieren. Als Spezialist für asiatische Philosophie sucht er einen Weg der Verständigung, der im Anderen eine wichtige Ressource erkennt: „eine Exploration, die andere Möglichkeiten zutage fördert“. Mit teils durchaus konservativer Ausrichtung zeigt Jullien auf, wie wesentlich das „Zwischen“ist, damit eine Kultur lebt.