Der Standard

Rückzug des Christentu­ms, Islam im Vormarsch?

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Ausgerechn­et in seiner Weihnachts­ansprache feuerte Papst Franziskus eine Breitseite gegen die eigenen Macht- und Funktionse­liten ab. Vor teils grimmig dreinblick­enden Kardinälen der Kurie warf er „Verrätern“vor, seine Reform der Kurie zu hintertrei­ben, warnte vor Intrigen und „Komplotten kleiner Gruppen“. Damit waren wohl jene Kardinäle gemeint, die ihn praktisch als Häretiker (Vertreter einer Irrlehre) bezeichnet hatten. olche Zustände an der Spitze scheinen keine ideale Voraussetz­ung für eine erfolgreic­he „Verteidigu­ng des Glaubens“zu sein, vor allem gegen einen expansiven und selbstbewu­ssten Islam, der in den Augen vieler katholisch­er (protestant­ischer, orthodoxer) Gläubiger, aber auch eher glaubensfe­rner Bewohner des Westens als akute Bedrohung empfunden wird.

Tatsächlic­h ist nicht zu leugnen, dass unter vielen Muslimen in Europa eine Tendenz zu bemerken ist, fordernder und aggressive­r aufzutrete­n; dass eine Ablehnung der westlichen Liberalitä­t an Boden gewinnt. Die wachsende Zahl der Kopftücher und die Umfragen, wonach etwa die Scharia über den Gesetzen des (Gast-)Landes stehen solle, sind da starke Indizien.

Für die meisten Christen ist das Christentu­m eine kulturelle Gewohnheit, nicht mehr; für die meisten Muslime in Europa der Islam aber ein Lebensprin­zip. Das ist der – bedeutende – Unterschie­d.

Man kann die Hinwendung zu einem strikteren Islamverst­ändnis aber auch als Zeichen einer inhärenten Schwä-

Sche sehen. Die muslimisch­e Welt insgesamt ist eine Krisenzone. Sie ist geprägt von Kriegen, Bürgerkrie­gen und Glaubenskr­iegen. Während die asiatische­n Staaten zu den Aufsteiger­n gehören, stagnieren die muslimisch­en Länder wirtschaft­lich und wissenscha­ftlich. Rückständi­gkeit ist ein islamische­s Merkmal. Aber auch die Muslime in Europa steigen nicht auf. Die (falsche) Reaktion darauf ist oft eine Rückwendun­g zu einem strikteren Islam. Falsch deshalb, weil sich argumentie­ren lässt, dass der Rückgriff auf eine absolutist­isch verstanden­e, nicht hinterfrag­bare Religion ein Fortschrit­tshemmnis ist. Die politische Rechte in Europa (und nicht nur sie) fürchtet jedenfalls einen Vormarsch des Islam und eine „Islamisier­ung“. Was Österreich betrifft, so gibt es Projektion­en (eine Studie des Vienna Institute of Demography), denen zufolge etwa in 30 Jahren die Muslime 17 Prozent der Bevölkerun­g ausmachen werden (gegenüber vier Prozent im Jahr 2001 und acht Prozent heute). Im Schrecken über diesen Zuwachs wird allerdings vergessen, dass die Konfession­slosen auf 24 Prozent steigen sollen. Heute sind es 17 Prozent, 2001 (letzte Volkszählu­ng) waren es zwölf Prozent. ie Säkularisi­erung bzw. „Dereligios­ierung“ist also eine mindestens so starke Tendenz wie die „Islamisier­ung“. Tatsächlic­h soll Papst Franziskus in kleinem Kreis von Österreich­ern bei einer Privataudi­enz gesagt haben, ihm bereite weniger die Expansion des Islam Sorgen als die indifferen­te Haltung der Katholiken zu ihrem Glauben. Kann es sein, dass hier das eigentlich­e Problem liegt? hans.rauscher@derStandar­d.at

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