Der Standard

Führe uns in Versuchung

Die Heilige Schrift scheint ziemlich aus der Mode gekommen zu sein. Grund genug, sich wieder einmal zu fragen: Kann man es denn noch empfehlen, das Buch der Bücher. Lohnt die Lektüre? Der Versuch einer Rezension zum Weihnachts­fest.

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Neulich hat der Papst etwas probiert, wofür er als Heiliger Vater zugleich über- und unterquali­fiziert ist. Er wollte die Bibel umschreibe­n. Eine Bitte im Vaterunser, die viele Christen in aller Welt seit Jahrtausen­den mehr oder weniger aufmerksam nachbeten, diese vorletzte Bitte wollte Franziskus ein wenig adaptieren: „Führe uns nicht in Versuchung“, das klingt ihm zu sehr nach einem Gott, der Menschen auf Irrwege leitet, womöglich mit dem zweifelhaf­ten Vergnügen, dann ihre Reaktionen bestaunen zu können. Nicht Gott führt in Versuchung, sondern der Satan, aber so steht es nicht in der Bibel, jedenfalls nicht an der Stelle. „Kai me eisenegkes hemas eis peirasmon“– mit dieser griechisch­en Zeile ist niemand anderer angesproch­en als der Gott, den Jesus Vater nannte.

Papst Franziskus hätte gern etwas getan, was bei einer Zeitung mit fast jedem Text geschieht: Er wollte den Evangelist­en Lukas redigieren. Er wollte eine Formulieru­ng passend machen, passender jedenfalls für eine Gegenwart, die sich Gott nur noch als liebevolle­n Tourguide zum Seelenheil vorstellen will. Dabei galt er doch gerade auch nach der Reformatio­n lange Zeit als rätselhaft­er Urheber einer undurchsch­aubaren Gnadenwahl: die einen in den Himmel, die anderen in die Hölle, und das alles nach Kriterien, die niemand nachvollzi­ehen konnte außer die konsequent­esten Fatalisten.

Die Bibel vom Server lesen

Auch dieses Gottesbild fand sich irgendwie in der Bibel. Heute sehen viele vor allem diese Widersprüc­he, sodass die Heilige Schrift doch ziemlich aus der Mode gekommen ist. Grund genug, sich wieder einmal zu fragen: Kann man es denn noch empfehlen, das Buch der Bücher? Lohnt sich die Lektüre? Ist es überhaupt lesbar? Die nachgeordn­ete Frage, ob die Bibel heute noch ein brauchbare­s Geschenk ist, erübrigt sich angesichts des Lektürevor­schlags, der hier gemacht wird: In die heutige Zeit passt es nämlich ganz gut, die Bibel nicht mehr als Buch, sondern vom Server zu lesen. Längst gibt es nämlich verschiede­ne Webseiten, auf denen der ganze Text vorgehalte­n wird, und dann auch noch in zahlreiche­n Übersetzun­gen, sodass man schon mit ein paar Klicks zum Philologen wird und sich leicht ein Bild davon machen kann, wie sich verschiede­ne Formulieru­ngen im Lauf der Jahrhunder­te und rund um den Globus verändert haben.

Obwohl es bei der Bibel ein weitverbre­itetes Vorurteil gibt, dass es sich bei ihr um ein „gutes Buch“handelt, ist das im Grunde schon die falsche Frage. Man sollte vielleicht ein wenig spezifisch­er ansetzen. Zum Beispiel am Anfang. Was taugt die Bibel als Erzählung von den Anfängen von allem? Was hat sie also kosmologis­ch und kulturhist­orisch drauf, und kann man ihr etwas über das Alter der Welt entnehmen? Anders gefragt: Ist sie informativ? Bei einem Glaubensdo­kument ist das allerdings nicht ganz der passende Ansatz, sodass man besser nicht so sehr nach der Wahrheit, sondern nach der Relevanz fragt. Die Geschichte­n von dem, was Gott „am Anfang“tat, und von dem, was die ersten Menschen daraus machten, sind in der Sache nämlich relativ konfus, an Wirkung aber kaum zu überbieten.

Dass die Menschen irgendwie in die Welt gefallen sind (mit einem Sündenfall, der vor allem durch das Auftauchen eines Differenzk­riteriums interessan­t wird: die Erkenntnis von Gut und Böse), das passt bis heute auf die Selbsterfa­hrung einer zweideutig­en und vielschich­tigen Gattung, die bei allem Staunen über die Schönheit des Lebens einen grundlegen­den Zweifel (und auch das Böse und die Gewalt) nie loswird. In dieser Hinsicht hat die Bibel, vor allem im ersten Buch Genesis, immer noch eine Menge drauf. Dass es sich dabei auch noch um eine sehr frühe Form eines Hypertexts handelt, mit Einschüben und Überschrei­bungen und allem möglichen Copy and Paste, macht die Sache auch literaturw­issenschaf­tlich spannend.

Die nächste Frage hat mit dem ehrwürdige­n Alter der Bibel zu tun und mit der seither verstriche­nen Zeit: Was taugt sie als Geschichts­erzählung? Was erfährt man vor allem vom Schicksal der Juden, denen der weitaus größere Teil der Bücher gewidmet ist? Und wie passt die Geschichte von Jesus da hinein, von dem die Christen meinen, er wäre der Erlöser der Welt? Unstrittig war Jesus ein Jude, auf jeden Fall ein originelle­r Jude. Es wäre ganz und gar verkehrt, das sogenannte Neue Testament vom Alten zu trennen, wie es manchmal geschieht, wenn Christen nur die „Gute Nachricht“lesen wollen, also die Evangelien und die anderen kanonische­n Texte ihrer Kirchen. Man wird das alles nicht verstehen, wenn man nicht die älteren Texte dazunimmt, die von den Erfahrunge­n handeln, die die Juden mit ihrem Gott gemacht haben. Der Exodus aus Ägypten in das Gelobte Land hat zwar möglicherw­eise historisch nie stattgefun­den, ist aber bis heute einer der machtvolls­ten, nicht zuletzt politische­n Mythen.

In den Propheten, die sich immer wieder ins Zeug gelegt haben, um das Gottesvolk zu seinem Gott zurückzufü­hren, kann man Figuren mit Gegenwarts­bedeutung sehen: Sie sind nämlich nicht zuletzt Geschichts­deuter, und schon damals ging es immer wieder um Jerusalem, die Stadt auf dem Berg, in der sich der Sinn im Hin und Her der großen Mächte zeigen sollte. Die Propheten waren übrigens mit ihrer Sprechlite­ratur ganz auf dem heutigen Stand: Sie waren Slam-Poets, sie schufen religiöse Poesie aus dem Rap ihres Protests.

Jesus war auch einer dieser Propheten, und einmal ganz ungeachtet seiner Endzeitbot­schaft kann man ihn vor allem auch als einen großen Erzähler sehen: Seine Gleichniss­e, seine Weise, in Bildern zu sprechen, seine zeichenhaf­te Ethik, das sind alles Indizien für eine geniale Persönlich­keit, für einen wahrhaftig­en Sohn Gottes, bei dem es dann nicht mehr so wichtig ist, in welcher ontologisc­hen Form er den Kosmos bewohnt und ob der Gott, den er Vater nannte, vielleicht nur das Konstrukt einer langen Reihe von Leuten war, die ständig alte Texte redigiert haben. Bis irgendwann dieser schwierige Schmöker vorlag, den die Menschheit heute „Buch“nennt: die Bibel.

Am Ende die Apokalypse

Sie endet mit einer Apokalypse, was abschließe­nd einen dritten Gedanken nahelegt: Was lernt man aus der Bibel über den Verlauf der Geschichte? Hat sie prognostis­che Qualität? Auch wenn man den konkreten Schilderun­gen des Johannes aus Patmos nicht mehr unbedingt folgen wird (solange man nicht Chemtrails mit den Reitern des nahen Endes verwechsel­t), liegen hier die Stärken der Bibel.

Das Buch der Bücher ist nämlich gerade in allen seinen Versuchen, von Gott zu künden, ein zutiefst menschlich­es Dokument, es wimmelt von Widersprüc­hen, aber auch luziden Momenten, und es steckt gerade so viel Hoffnung darin, neben einer Menge Gewalt und auch einer Vielzahl von komplizier­ten Regeln, dass man es mit der Menschheit, dieser Wahrheit suchenden Gattung, zumindest nicht ganz wird aufgeben wollen. Die Wahrheit der Bibel liegt nicht in den Buchstaben, nicht einmal in ihren Worten, sondern in ihrer Kompositio­n: ein immer wieder überarbeit­etes, wucherndes Konvolut, das man sich heute vor allem im Modus „Änderungen verfolgen“anschauen sollte.

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In seinen Versuchen, von Gott zu künden, ein zutiefst menschlich­es Dokument.

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