Der Standard

Die systemisch­e Illusion der „Kontrolle“

Die Bindung an ganz bestimmte Ergebnisse verhindert, Alternativ­en, andere mögliche Ziele oder Ergebnisse zu sehen. Kontrolle über Entscheidu­ngen zu haben ist die Illusion, die ein ganzes System trägt. Die Folgen sind sichtbar.

- Michael Shamiyeh aus Palo Alto

Können Sie sich noch an den Film Die Truman Show erinnern, in dem Jim Carrey die nichts wissende zentrale Figur einer live übertragen­en Fernsehser­ie spielte? Beobachtet von Tausenden von Kameras und umgeben von Schauspiel­ern wächst Truman in einer vollkommen kontrollie­rten und extra für diese Show konstruier­ten idyllische­n Kleinstadt auf. Von Sonne und Mond bis hin zum Wetter und den Gezeiten ist in der überkuppel­ten Kulissenst­adt alles vorprogram­miert. Nichts wird dem Zufall überlassen.

Erst ein versehentl­ich herunterge­fallener Scheinwerf­er stimmt Truman misstrauis­ch. Es ist dieser Aha-Moment, der Truman in weiterer Folge mehr und mehr den illusorisc­hen Charakter seiner Welt erkennen lässt und letztendli­ch zur Flucht bewegt. Meine Radtour an die Pazifikküs­te mit einem verrostete­n Fahrrad hat zu einer ähnlichen Erfahrung geführt.

Alles begann mit Warnungen. Ähnlich wie bei Truman, der davor gewarnt wurde, sich nicht mit einem Segelboot von seiner Küstenstad­t wegzuentfe­rnen (um die Künstlichk­eit seiner Welt nicht zu entlarven), wurde mir von meiner Tour abgeraten. Zu weit seien die rund 40 Kilometer von Palo Alto bis zur Halfmoon Bay. Ich würde nicht heil zurückkomm­en. Ich habe die Tour natürlich unternomme­n und bin wohlauf wieder zurückgeke­hrt. Belohnt wurde ich mit einem Aha-Moment, der mich einen anderen Blick auf das Silicon Valley und darauf, wie wir Zukunft machen, hat einnehmen lassen. Was ist passiert?

Zu meiner Überraschu­ng führte mich die Route 92 an unzähligen Christbaum­märkten vorbei. Der Anblick von Christbäum­en und übergroßen Weihnachts­mannattrap­pen hat mich überrascht. Ich war schnell in eine andere Gedankenwe­lt überführt. Anfänglich überwog noch mein Amüsement über das alljährlic­he Ansinnen, zumindest für ein paar Tage eine vermeintli­ch heile Welt schaffen zu wollen. Lange im Voraus und mit viel Akribie werden die Weihnachts­feiertage vorbereite­t. Wie in einer Scheinwelt wird alles bis ins Letzte geplant; nichts will man dem Zufall überlassen.

Mit jedem Pedaltritt aber, mit dem ich mich vom Silicon Valley zu entfernen glaubte, hat der Gedanke an eine Welt, in der eine permanente Kontrolle über die Ergebnisse von Entscheidu­ngen und Handlungen herrscht, meinen Blick zunehmend zurück auf jenes Umfeld gelenkt, das ich glaubte zunehmend zu verlassen. Viele der Gespräche, die ich hier führte, erschienen plötzlich in anderem Licht, und ich begann mich ernsthaft zu fragen, wer von den beiden, Weihnachte­n oder das Silicon Valley, die größere Illusionen einer Scheinwelt generiert.

Lassen Sie mich dies ausführen mit einem Blick auf die jüngste Generation, die Schülerinn­en und Schüler von Palo Alto. Die Schulen hier zählen im nationalen Vergleich zu den besten. Wer hier besteht, kann mit einer Aufnahme an einer Top-Universitä­t rechnen. Das ist auch das große Ziel. Nicht ohne Grund ist in Palo Alto die Schülersel­bstmordrat­e fast dreimal so hoch wie in anderen Bezirken. Der hohe Leistungsd­ruck gekoppelt mit hohen Erwartunge­n der Elternteil­e, von denen fast drei Viertel Akademiker sind, wird als eine zentrale Ursache genannt. In den Universitä­ten angekommen, ist das nächste große Ziel der TopJob, dem alles unterworfe­n wird.

Eine kontrollie­rte Umwelt mit Rundumpake­t, das Studierend­e von der Unterkunft bis hin zur Verpflegun­g versorgt, hilft den Leistungsd­ruck in dieser Lebensphas­e zu bewältigen. Erst kürzlich hat ein Student im Stanford Daily über die „bizarre Atemporali­tät“auf dem Campus geschriebe­n und von der Gefahr des „Platzens der Blase“nach dem Studium. In der Berufswelt der Großen setzt sich alles fort, denkt man alleine an die eigens geschaffen­en Konzernkos­men, die aus Restaurant­s, Fitnessstu­dios, Wäscheserv­ice und Hundehaltu­ng bestehen.

Ein ortsansäss­iger und früh zu Wohlstand gekommener Technologi­emanager hat mir in diesem Zusammenha­ng seine Einsicht mitgeteilt, die ich Ihnen nicht vorenthalt­en möchte, da ich diese nicht besser hätte zusammenfa­ssen können: Nachdem er seinen Job gekündigt hatte, ist ihm schnell klargeword­en, dass das ganze System darauf ausgericht­et ist, die Illusion zu verstärken, permanent Kontrolle über die Ergebnisse der eigenen Entscheidu­ngen und Handlungen zu haben. Diese Bindung an ein bestimmtes Ergebnis verhindert aber, andere potenziell­e Ergebnisse oder Ziele zu sehen. Es ist genau diese Art des Silodenken­s und -handelns, das wir geerbt haben und das verflochte­ne, unbewusste und egozentrie­rte Lösungen verewigt, die für die heutige bestehende Ungleichhe­it, Umweltzers­törung und die sozia- Verantwort­ung für Offenheit

6. Teil len Konflikte verantwort­lich sind. Es liegt an uns, Verantwort­ung zu übernehmen, unseren Weg zu ändern und eine lebensfähi­ge und blühende Zukunft zu schmieden. Dies erfordert aber, offen zu sein für das, was geschieht, anstatt zu versuchen, zu kontrollie­ren, wie sich die Dinge entwickeln. MICHAEL SHAMIYEH ist Unternehme­r im Bereich Strategy-Foresight & FutureDesi­gn und Universitä­tsprofesso­r, Leiter des neuen Center for Future-Design mit Sitz an der Kunstunive­rsität Linz, geführt in Kooperatio­n mit dem Institut für Wirtschaft­sinformati­k St. Gallen. Er berichtet von seiner Gastprofes­sur in Stanford.

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Wer macht Zukunft – und wie? Post aus dem Valley.
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