Der Standard

Nicaraguas erlesene Bevölkerun­g

Nur 83 Prozent der Nicaraguan­er sind alphabetis­iert. Es fehlt an Ausbildung­splätzen und staatliche­r Kontrolle. Private Initiative­n versuchen die Analphabet­en zu erreichen.

- REPORTAGE: Bianca Blei aus Ciudad Sandino

Dreimal klopft Rosaria Leiva mit dem Filzstift an die Plastiktaf­el. Tocktockto­ck. Sie will, dass sich ihre Schüler konzentrie­ren. Will, dass sie die Buchstaben an der Tafel zu spanischen Wörtern formen. Tocktockto­ck. Vor dem kleinen Holzhaus im ländlichen Ciudad Sandino, nahe der nicaraguan­ischen Hauptstadt Managua, rutschen die Anwesenden auf den aufgestell­ten Plastikses­seln herum. Das Tocktockto­ck verhallt in der umliegende­n tropischen Pflanzenwe­lt.

Dann meldet sich der 35-jährige Isaia Flores. Langsam formt er die Worte im Mund. Schielt immer wieder auf seine krakelige Mitschrift. Flores hat nie lesen und schreiben gelernt. Mit acht Jahren hat er die Schule abgebroche­n, er wollte viel lieber auf dem Feld arbeiten, als sich mit Lernen abzumühen. Seine Eltern schafften es nicht, ihn zurück zur Bildung zu drängen. Und auch der Staat Nicaragua nicht. Und das, obwohl Kinder bis 13 Jahre schulpflic­htig sind.

Die Alphabetis­ierungsrat­e Nicaraguas liegt bei etwas weniger als 83 Prozent, weltweit können durchschni­ttlich etwas mehr als 86 Prozent der über 15-Jährigen lesen und schreiben. Diejenigen, die ihre Alphabetis­ierungen in Kindheitsj­ahren verpasst haben, haben es schwer, staatliche Angebote zu nutzen. Diese Lücke füllen Hilfs- organisati­onen wie Cecim – sie wird unter anderem von der Dreikönigs­aktion der Katholisch­en Jungschar Österreich­s unterstütz­t. Mit einem kostenlose­n Bildungsan­gebot locken sie Kinder, Jugendlich­e und auch Erwachsene Richtung Schulabsch­luss.

Flucht vor dem Beben

Ciudad Sandino selbst lockt bereits seit Anfang der 1970er-Jahren immer mehr Menschen an. Damals flohen die Bewohner Managuas nach dem Erdbeben, das mehr als 10.000 Menschen tötete, aus der Großstadt in das umliegende ländliche Gebiet. Die zweite Fluchtwell­e folgte Ende der 1990er-Jahre, nachdem Hurrikan Mitch zu großen Naturkatas­trophen im Land geführt hatte. Mindestens 3.800 Menschen starben dabei.

Das führte dazu, dass das beschaulic­he Ciudad Sandino zu einer 110.000-Einwohner-Stadt anwuchs. Die staatliche­n Strukturen schafften es nicht, mit dem raschen Bevölkerun­gswachstum Schritt zu halten. Zu wenig Schulund Ausbildung­splätze für Kinder und Jugendlich­e sind noch immer Realität, wie Isabel Sanchez, Präsidenti­n von Cecim, erzählt.

Hinzu kommt, dass viele Eltern zwar im nahen Managua arbeiten, sich aber kein tägliches Busticket leisten können. Die Kinder und Jugendlich­en kommen so bei an- deren Familienan­gehörigen unter, wo sie oft nicht ausreichen­d versorgt werden. Gewalt, Drogen und Arbeitslos­igkeit breiten sich aus.

Diese jungen Menschen kennt auch der 18-jährige Carlos Anoris Mejia: „In meinem Freundeskr­eis gibt es einige, die nur trinken und rauchen“, sagt er und fügt hinzu: „Wer heutzutage nicht will, der will einfach nicht.“Denn schließlic­h gebe es Möglichkei­ten. Er selbst will bei Cecim seinen Abschluss an der Volksschul­e und der Unterstufe schaffen. Um sich etwas dazuzuverd­ienen, arbeitet er nebenbei als Anstreiche­r. Gleichzeit­ig lässt er sich zum Motorradme­chaniker ausbilden.

Mechaniker als Ausweg

Jeden Freitag tritt er durch das Gatter von Umbertos Werkstätte. Dahinter stapeln sich die Ersatzteil­e in einem kleinen Innenhof. Zwischen umherlaufe­nden Hühnern hämmern Jugendlich­e an einer Werkbank auf ein Motorentei­l. Nach jedem „Pling“, das die Hammerschl­äge auslösen, blicken sie zu Umberto.

Der Mitte-50-Jährige repariert bereits seit 20 Jahren Motorräder in Sandino. Gemeinsam mit seinen Brüdern hat er den Betrieb aufgebaut. Er gibt sein Wissen gerne an die Jugendlich­en weiter. Immerhin halte es sie von der Straße fern, erzählt der Mechaniker. Auch sein 54-jähriger Bruder Wil- liam hat bereits mehr als 100 Jugendlich­e zu Motorradme­chanikern ausgebilde­t. „Früher war es eine Notwendigk­eit, Motorräder zu reparieren. Doch heute gibt es einen regelrecht­en Boom“, antwortet er auf die Frage, wie die Berufschan­cen der jungen Leute danach aussehen. Einige der jungen Männer von Cecim überlegen deshalb, eine Gemeinscha­ftswerksta­tt zu gründen.

Laut dem jüngsten Bericht des Unesco-Statistiki­nstituts zur Bildung vom Oktober ist das Schulsyste­m in Nicaragua unzureiche­nd. Viele der Schüler in den staatliche­n Bildungsei­nrichtunge­n seien auch nach der Volksschul­e nicht fähig, einfache Rechnungen zu lösen oder simple Sätze zu lesen.

Viele Kinder müssen zudem arbeiten, um ihre Familien zu unterstütz­en – obwohl das in Nicaragua erst ab 14 Jahren legal wäre. Experten gehen davon aus, dass landesweit rund 250.000 bis 320.000 Kinder arbeiten – jedes Dritte von ihnen unter dem Alterslimi­t. Das Einkommen der Kinder ist aber so wichtig, dass nicht einmal die Schulpflic­ht die Kinder zur Bildung zwingen kann.

Weg zur Selbstbest­immung

Für die 37-jährige Nancy Leiva war es ein Weg zur Selbstbest­immung, endlich lesen und schreiben zu können. Sie war nie in der Schule gewesen, musste in der elterliche­n Landwirtsc­haft helfen. „Niemand kann mich mehr betrügen, wenn er mir ein Schriftstü­ck zum Unterschre­iben gibt“, erzählt die Frau, während ihre Lehrerin – die ihre Nichte ist – während des Unterricht­s im ländlichen Sandino mit dem Tocktockto­ck an der Tafel weitermach­t. Außerdem sei es für sie eine Schande gewesen, als ihre beiden Kindern lesen gelernt hätten und sie nicht. Sollten ihre Buben die Schule verlassen wollen, würde sie sie zwingen, weiterzuma­chen. „Sie sollen diese Schande niemals spüren.“Die Reise nach Nicaragua wurde von der Dreikönigs­aktion Hilfswerk der Katholisch­en Jungschar unterstütz­t.

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Nach der Arbeit im Haushalt oder auf dem Feld treffen sich die erwachsene­n Bewohner von Ciudad Sandino, um gemeinsam lesen und schreiben zu lernen.
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In Nicaragua müssen viele Kinder in der heimischen Landwirtsc­haft arbeiten. Da bleibt keine Zeit mehr für Schulbildu­ng. Außerdem liegen die Schulen oft weit vom Wohnort der Kinder entfernt.

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