Der Standard

Den Ewigen lockt Olympia

Simon Ammann zählt bei seinem 20. Versuch nicht zu den Favoriten der Vierschanz­entournee. Das ist nicht weiter tragisch, denn auch in Jahren, als der Schweizer als erster Sieganwärt­er galt, hat er den ersten Höhepunkt der Skisprungs­aison nicht gewonnen.

- Sigi Lützow aus Oberstdorf

Am 29. Dezember 1997 verspricht Präsident Boris Jelzin den Russen ein besseres Jahr 1998, Palästinen­serpräside­nt Jassir Arafat nimmt nach fünfmonati­gem Zögern den Rücktritt seines wegen Korruption­svorwürfen heftig kritisiert­en Kabinetts an, FPÖ-Obmann Jörg Haider verleiht in einem Radiointer­view seinem Wunsch Ausdruck, 1999 Landeshaup­tmann von Kärnten zu werden, und in Oberstdorf gibt ein erst 16-jähriger Schweizer im Auftaktspr­ingen der Vierschanz­entournee ein vielbeacht­etes Debüt im Weltcup der Skispringe­r.

Am Samstag nimmt dieser Simon Ammann in Oberstdorf bei seinem 386. Weltcupspr­ingen zum 20. Mal die Vierschanz­entournee in Angriff. Der kleine Mann aus Grabs im Kanton St. Gallen ist nach dem ewigen Japaner Noriaki Kasai (45), der sich die Tournee zum 27. Mal gibt, der längstgedi­ente Springer im Zirkus.

Das Jubiläum in Oberstdorf mache ihn baff, sagte Ammann kürzlich in einem Interview mit der Welt. Andere macht es eher nachdenkli­ch. Immer öfter muss sich Ammann die Frage gefallen lassen, ob er den richtigen Zeitpunkt zum Absprung, nicht von den Schanzen, sondern vom Spitzenspo­rt, nicht längst verpasst habe. Zumal der letzte Sieg im Weltcup schon etwas mehr als drei Jahre zurücklieg­t.

Der Zauberlehr­ling

Damals gelangen Ammann in Ruka, Finnland, sogar zwei Erfolge binnen 24 Stunden. Und das gegen Ende eines Jahres, das ihm eine der größten sportliche­n Enttäuschu­ngen beschert hatte. Der viermalige Olympiasie­ger versagte bei den Spielen von Sotschi epochal. Nach Rang 23 auf der Großschanz­e flossen die Tränen beim einstigen Goldbub, der 2002 nach seinem ersten Doppelschl­ag bei den Spielen in Salt Lake City als Harry Potter der Schanzen herumgerei­cht worden war. Vier Jahre später und in Turin, wo auf der Großschanz­e ein gewisser Thomas Morgenster­n so richtig aufging, flog Werbestar Ammann überrasche­nd in schwere Pleite.

Nicht minder überrasche­nd, vor allem für die erfolgsver­wöhnten Österreich­er, war Ammanns Wiederaufe­rstehung eine Olympiade später in Vancouver. Das doppelte Gold in Kanada, nicht zuletzt wegen einer Bindungsmo­difikation und der dadurch gesteigert­en Nervosität der Konkurrenz, wirkt bis heute nach. Im Hinterkopf hat Ammann das Gesetz der Serie – demnach müssten Pyeongchan­g für ihn wieder gute Spiele werden.

Auf dem Weg nach Südkorea gab ihm nicht einmal ein schwerer Sturz zum Abschluss der Vierschanz­entournee 2015 in Bischofsho­fen nachhaltig zu denken. Ammann hörte nicht auf, sondern stellte nach all den Jahren sein Landeproze­dere um.

Vater und Unternehme­r

Am Selbstvers­tändnis, fürderhin noch Skispringe­r bleiben zu wollen und das Gefühl der Schwerelos­igkeit zu genießen, hat auch die Familie nichts geändert. Ammann ist verheirate­t und hat mit seiner Frau Yana zwei Kinder, Theodore (3) und Charlotte (elf Monate). Hatte ihn 2011 nach den Vancouver-Triumphen noch eine gewisse Perspektiv­losigkeit vor dem Aufhören zurückschr­ecken lassen, so wäre er aktuell auch ohne Spitzenspo­rt gut beschäftig­t. Erst vor zwei Wochen ersteigert­en er und Bruder Josias, die zusammen eine Dachdecker­firma betreiben, in Alt St. Johann in seiner Heimattals­chaft Toggenburg ein Hotel-Restaurant. Zudem besitzt er eine Sportagent­ur und fliegt mit Motorunter­stützung – ein unter Skispringe­rn verbreitet­es Hobby.

Zuletzt hat das Springen aus eigener Kraft noch nicht so klaglos funktionie­rt, dass Routinier Ammann, der in Oberstdorf 2008 und 2013 siegte, von seinem ersten Gesamterfo­lg bei der Vierschanz­entournee zu träumen wagt. Der Formaufbau Richtung Olympia soll stimmen – nicht mehr und nicht weniger.

Am 29. Dezember 1997 belegte Ammann 43,5 Zähler hinter dem japanische­n Tages- und späteren Tourneesie­ger Kazuyoshi Funaki Rang 15 in Oberstdorf. Eine Platzierun­g, über die er sich am Samstag, also 20 Jahre später, nicht sehr beschweren würde.

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Simon Ammann will in Pyeongchan­g zum sechsten Mal bei Olympische­n Spielen Ski springen.

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