Mit Farbe ins Freie
Die Retrospektive „Gabriele Münter – Malen ohne Umschweife“im Münchner Lenbachhaus zeigt sehr viele Stärken des Werkes der 1962 verstorbenen Künstlerin. Und alle Schwächen.
Gabriele Wer hoch ins Farbige will, der muss erst unter die Erde. Der Kunstbau der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München, in dem die große Werkschau der Malerin Gabriele Münter (1877–1962) gezeigt wird, liegt unterirdisch. Hier vibrieren aktuell die Wände vor Farbe: rot, gelb, grün, violett. Mal flächig. Mal hart nebeneinandergesetzt. Mal abstrakt, immerhin war Münter Gefährtin Wassily Kandinskys und bekannt mit allen Malern des Blauen Reiters, der Münchner Avantgardegruppe vor 1914. Auch mal postimpressionistisch. Oder neusachlich.
Malen ohne Umschweife lautet der Titel der mit 200 Exponaten, darunter 132 Gemälde, üppig bestückten Schau, deren Gros aus dem Bestand der GabrieleMünter-und-Johannes-EichnerStiftung stammt, seit 1966 Herzstück der Sammlung des Lenbachhauses. Und dessen eigentlicher Besuchermagnet. Worauf mit dieser Schau sichtlich erfolgreich spekuliert wird.
Der neunteilige Parcours ist thematisch aufgebaut. Schlagworte überspannen teilweise Arbeiten aus mehreren Jahrzehnten. Das verwischt, dass es zwei kreative Hauptphasen bei Münter gab: 1907 bis 1920, als sie mit Wassily Kandinsky zusammen war und die explosive Vehemenz des Blauen Reiters um diesen, Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin erlebte und mitmalte. Und das Jahr 1929/30 in Paris.
Begonnen wird der Bildergang auf Hintergründen von Tiefviolett zu Hellgrau mit Fotografien, dem „Werk vor der Malerei“. 1898 bis 1900, auf einer Reise zu Verwandten im Mittleren Westen der USA, fiel der 1,52 Meter kleinen Zahnarzttochter, durch den Tod der Mutter 1897 finanziell sehr gut gestellt, eine Kodak Bull’s Eye No. 2 in die Hände.
So werkerkenntnisumwälzend sind allerdings diese Fotografien nicht, wie es die Kuratoren Isabelle Jansen und Matthias Mühling, Letzterer auch Direktor des Hauses, behaupten. Eine Auswahl war schon vor zwanzig Jahren bei einer Münter-Schau, die durch Nordamerika tourte, zu sehen. Hilfreicher wären bei den Stadtszenen, Landschaftsaufnahmen und Blicken vom Mississippidampfer Verweise auf Münters Inspirationen – von Max Liebermann bis zur Dresdner Romantik.
Am eindringlichsten sind die Kabinette mit den sensiblen Porträts und den vielfältigen Landschaften. Aber schon bei „Natur und Technik“, Ölbildern aus den 1930ern von Straßenarbeiten bei Partenkirchen in Oberbayern – Münter selbst lebte da schon seit vielen Jahren im nahen Murnau –, fällt auf, wie eher unbeholfen diese Gemälde anmuten. Auch in „Wiederholungen und Variationen“sticht der Mangel an Konsequenz ins Auge.
Dass die neusachlichen Arbeiten der 1920er fast unbekannt sind, leuchtet sofort ein. Ist dies doch behagliche Malerei, nicht frei von Ambition, doch bieder ausgeführt, kreuzbrav. Merkwürdig kommentarlos gehängt sind die an spätexpressionistisch-naive Glasmalerei erinnernden Arbeiten von nach 1933. Eine mit Hakenkreuzfahnen geschmückte Straße – nur ein ästhetisches Ereignis? Andererseits verbarg Münter die verfemten Bilder ihrer Sammlung in ihrem Haus und rettete sie so.
Mitleidlos aufgezeigt
Die drei letzten Abteilungen, „Der Umgang mit Abstraktion“, „Interieurs“und „Primitivismus“, zeigen mitleid- wie ziemlich erbarmungslos alle Schwächen auf. Da setzte sie sich um 1914 mit Kinderzeichnungen auseinander – und kam zu mediokren Ergebnissen. Da griff sie lange das Motiv von Masken auf – und schuf wenig Überzeugendes. Und natürlich machte sie auch zeitgeistige Skizzen von tanzenden Südseebewohnern. Vollkommen unverständlich bleibt, wieso hier ihre abstrakten Gemälde der 1950er, ein Mix aus Mirò, Picasso und Jean Arp, dermaßen gepriesen werden. Erhellender wäre die Erwähnung, dass damals der Markt für figurative Kunst kollabiert war.
Dass Künstler nicht nur Galerien und Museen aufsuchten, sondern auch in den Zirkus und ins Varieté gingen, ist hinlänglich bekannt. Doch dass sie auch begeistert Filme schauten – Münter verehrte, wie Filmausschnitte zeigen, Zarah Leander –, scheint für Kunsthistoriker erstaunlich staunenswert zu sein. Diese Retrospektive, zu groß und viel zu breit, ist ein schwärmerischer mittelgroßer Bärendienst. Stärker bleiben im Gedächtnis die schwächeren und schwachen Arbeiten, die formalen und kreativen Defizite und nicht so sehr Sensibilität und farbliche Finesse. Bis 8. 4.