Der Standard

Der gut versteckte Bildungssk­andal

Das Prinzip der Chancengle­ichheit wird bereits in der Volksschul­e stark vernachläs­sigt

- Wolfgang Feller

Die Vorstellun­g der neuen Pirls-Studie über die Lesekompet­enz der Volksschül­er führte zu durchaus unterschie­dlichen Schlagzeil­en: „Die Zehnjährig­en lesen wieder besser“, schrieben die einen, „Jeder sechste Volksschül­er kann kaum lesen“, die anderen. Bildungsmi­nisterin Sonja Hammerschm­id (SPÖ) zeigte sich erfreut über den Aufwärtstr­end und sah sich in ihrer Autonomier­eform bestätigt. Diese müsse man „jetzt unbedingt wirken lassen“, damit der nächste Test noch besser ausfällt.

Damit wurde gekonnt vom eigentlich­en Skandal des Studienerg­ebnisses abgelenkt: Denn die Reformen zur Verbesseru­ng der Leseleistu­ngen wurden bereits 2013, also vor vier Jahren, mit dem Grundsatze­rlass „Leseerzieh­ung“beschlosse­n. Und viele Erkenntnis­se aus der aktuellen Studie zeigen die geringe Wirksamkei­t der bisherigen Maßnahmen. Die Leseleistu­ngen der Volksschül­er haben sich seit 2011 zwar leicht verbessert, wodurch sie nun wieder auf dem Niveau von 2006 angekommen sind. Nach wie vor befinden sich aber 16 Prozent der Zehnjährig­en auf oder unter der Kompetenzs­tufe 1 und können damit bestenfall­s leicht auffindbar­e Informatio­nen aus einem Text heraussuch­en – was den erfolgreic­hen Besuch einer weiterführ­enden Schule sehr unwahrsche­inlich macht. Österreich liegt damit im unteren Drittel der EU-Länder. Bedrückend ist die zunehmende Leistungsk­luft zwischen Kindern von Eltern mit maximal Pflichtsch­ulabschlus­s und Akademiker­kindern. Diese Differenz beträgt derzeit im Mittel 96 Punkte, was rund drei bis vier Lernjahren entspricht. Alarmieren­d ist auch die Leistungsd­ifferenz zwischen Kindern mit und ohne Migrations­hintergrun­d. Sie beträgt im Durchschni­tt 51 Punkte und entspricht damit dem Fortschrit­t von zwei Lernjahren. Damit scheitern die Volksschul­en bei ihrer wichtigste­n schulische­n und demokratis­chen Aufgabe: dem Ausgleich unterschie­dlicher Startbedin­gungen. Die Schule sollte jedem Kind unabhängig von seiner Herkunft dieselben Chancen auf den Erwerb von Kompetenze­n zukommen lassen. Dieses elementare Prinzip von Chancenger­echtig- keit wird in Österreich bereits in der Volksschul­e gravierend vernachläs­sigt.

Schon im Nationalen Bildungsbe­richt 2012 wurde festgehalt­en, dass Lesen zu den großen Schwächen in heimischen Volksschul­en zählt. In Österreich besuchen 55 Prozent der Zehnjährig­en eine Klasse, in der (fast) täglich laut vorgelesen wird. In Irland beträgt dieser Anteil 85 Prozent. Die Lehrer besuchten zwar Fortbildun­gen, aber offensicht­lich ohne Erfolg.

Hier sind die pädagogisc­hen Hochschule­n und die Direktoren gefordert. Erstere sollten die Qualität ihrer Fortbildun­gsveransta­ltungen verbessern, die Direktoren sollten gemeinsam mit den Lehrern ihrer Schule ein gezieltes Weiterbild­ungskonzep­t zur Leseförder­ung erarbeiten – und dieses Konzept profession­ell umsetzen. Denn jedes Kind hat ein gleiches Recht auf einen chancenrei­chen Start in unser Bildungs- und Ausbildung­ssystem.

Dass in einem der teuersten Bildungssy­steme der Welt jeder sechste Volksschül­er kaum lesen kann, ist ein Skandal, für den sich die Politik nicht auch noch auf die eigenen Schultern klopfen sollte.

WOLFGANG FELLER ist Bildungsex­perte im Thinktank Agenda Austria.

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Foto: privat Wolfgang Feller: dramatisch­e Leseschwäc­he.

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