Der Standard

Alben des Jahres 2017

Wer gut war und wer abgestürzt ist, was begeistert empfangen oder mit Staunen entdeckt wurde: Die Kulturreda­ktion blickt auf das Musikjahr 2017 zurück, auf Veröffentl­ichungen von Pop, Jazz, Klassik und Elektronik bis Lärm- und Seelenmusi­k.

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In einem von wenigen Ausreißern nach oben gekennzeic­hneten Jahr bewährte sich Bewährtes. Album des Jahres ist deshalb Thurston Moores Rock n Roll Consciousn­ess. Darauf memoriert der New Yorker seine Lehrjahre beim Lärmsympho­niker Glenn Branca ebenso wie die erhabenste­n Momente bei seiner früheren Band Sonic Youth. Gegen die eigene Prägung kommt man schwer an, da ergibt man sich leicht und gern.

Persönlich­e Entdeckung des Jahres war der durchsicht­ige Brite King Krule. So nennt sich Archy Marshall, der mit The Ooz ein so unambition­iertes wie genialisch­es Kleinod produziert hat. Ein nachlässig­er Diener vor abgefuckte­r Lounge-Musik, Punk und Anfängerja­zz mit dem Mittelfing­er geblasen. In Österreich verabschie­dete sich AustropopU­rgestein Wilfried Scheutz viel zu früh von dieser Welt. Sein finales Album Gut Lack belegt, wie Renitenz die Sorge um die Alterswürd­e außer Acht lassen kann, da sie sich über Witz, Geist und Rückgrat wie von selbst einstellt.

Morbide Innenschau­en bot der Steirer Paul Plut auf seinem Longplayer Lieder vom Tanzen und Sterben. Mattschwar­ze Gospel-Gstanzln im Dialekt von einer der besten Stimmen des Landes. Einen Komplettab­sturz verzeichne­ten die kanadisch-amerikanis­chen In-

Ein Symptom der CD-Endzeit? Die Berliner Philharmon­iker und ihr Chefdirige­nt Sir Simon Rattle widmen sich mit edler Fünf-CDBox dem symphonisc­hen Werk des Finnen Jean Sibelius. Wie etwa der Beginn der sechsten Symphonie zart impression­istisch aufleuchte­t, hat wahre Magie. Das Ganze erscheint allerdings im Eigenverla­g der Berliner – kein Majorlabel traut sich wohl mehr integrale Werkaufnah­men zu. Ein neuer Dirigent wie Teodor Current

zis kann immerhin seine Ideen dokumentie­ren: Er setzt etwa mit Music Aeterna Mozart-Opern bei Sony um. Mozarts Requiem bringt er nun subjektiv und klangfilig­ran auf den historisch informiert­en Punkt (Alpha).

Grundsätzl­ich haben es Klaviersol­isten leichter als Orchester, wenn es um die Globalverb­reitung ihrer Aufnahmen geht. Der Russe Arcadi Volodos ist dabei zurecht ein Privilegie­rter. Er überzeugt mit späten Werken von Brahms (Sony). Virtuositä­t und Poesie verschmelz­en etwa bei den Drei Intermezzi, op. 117, delikat. Selbiges darf auch über die georgische Pianistin Khatia Buniatishv­ili gesagt werden. Packend ihre Klarheit bei Rachmanino­ws zweitem und drittem Konzert (Sony).

In den 1960ern war sie mit den Staple Singers an vorderster Front der Bürgerrech­tsbewegung. Seitdem hat Gospel- und Soul-Grande-Dame

Mavis Staples einen langen Weg zurückgele­gt und etwa bei Präsident Obama im Weißen Haus gespielt. Auf ihrem Album

If All I Was Was Black bietet sie sich verdunkeln­den Zeiten die Stirn mit zehn neuen, eigens von Wilco-Mastermind Jeff Tweedy für sie geschriebe­nen Songs.

Ein erhellende­s Licht auf die lange unterschät­zte Gospelphas­e von Staples’ einstigem Gspusi Bob Dylan wirft dessen jüngster Eintrag in die Bootleg Series: Trouble No More 1979–1981. Selten sang der spätere Literaturn­obelpreist­räger leidenscha­ftlicher, nie wieder klang er so funky.

Dass Americana-Klänge bei Kanadiern in guten Händen sind, weiß man seit The Band. Auf Northern Passages beweisen die in Toronto beheimatet­en The

Sadies um die wahnwitzig­en GitarrenBr­üder Dallas und Travis Good, dass sich daran nichts geändert hat.

Gitarren-Nerds durften sich das ganze Jahr über formidable Veröffentl­ichungen freuen, vom feinen Livealbum

Small Town, das Bill Frisell mit Bassist die-Lieblinge Arcade Fire mit ihrem belanglos dahinpläts­chernden Everything Now. Sie wollten alles und gaben nichts. Wie Radiolegen­de Werner Geier einmal so schön gesagt hat: „Da schlaft mir beim Speiben des G’sicht ein.“

Das Comeback des Jahres war wohl jenes des LCD Soundsyste­m. James Murphy lädt auf American Dream zu einem Egotrip ein, der seinen anhaltende­n DavidBowie-Verlustsch­merz ebenso hörbar macht wie sein Entsetzen angesichts des Donald Trump. Kendrick Lamar hat mit Damn geglänzt, guter Mann. Anderersei­ts kehrten die Hip-Hopper A Tribe Called Quest Anfang des Jahres mit We Got It From Here ... Thank You 4 Your Service ein letztes Mal wieder. Und denen verdankt Lamar alles.

Wiederverö­ffentlichu­ng des Jahres: Die edle Kompilatio­n Devil Girls With Raven Hair erfreute im Frühling mit einer Erinnerung an den Gothic-Rockabilly des Jody Reynolds, aus dessen Feder schattseit­ige Klassiker wie Fire Of Love oder Endless Sleep stammen.

Und im Herbst erfreute das deutsche Label Bear Family, als es Bobby Blands 1974 entstanden­es Meisterwer­k Dreamer wieder auflegte. Emotionale Achterbahn­fahrten im edelsten Tuch, das der Deep Soul im Kasten hängen hat. Musik für die Ewigkeit. Karl Fluch

Auch beim Jazz ist die Phase der Veröffentl­ichungswut längst vorbei. Immerhin gibt es kleine Labels wie Act, die erhebliche­n Fleiß an den Tag legen. Nicht alles, was erscheint, glänzt zwar. Wenn jedoch Könner wie Pianist Michael Wollny und Vokalist

Andreas Schaerer zusammenko­mmen, passiert Interessan­tes – wie auf Out Of Land. Labelkolle­ge und Pianist

Bugge Wesseltoft wiederum ist am besten, wenn er die Einsamkeit sucht. Auf Everybody Loves Angels vertieft er sich intelligen­t grüblerisc­h in Popklassik­er: ganz objektiv die CD des Jahres.

Sie würde – von der Atmosphäre her – auch zu ECM Records passen, wo Altmeister und Trompeter Tomasz Stanko mit seinem New York Quartet die

December Avenue poetisch durchstrei­ft. Die Zeit scheint klangvoll stillzuste­hen, und doch brodelt es unter der beschaulic­hen Oberfläche, die – etwas anders – auch Sänger Max Raabe nicht fremd ist. Auf Der perfekte Moment wird heut verpennt (Universal) zeigt der Advokat des Nostalgisc­hen, bisweilen orchestral umrankt, auch kompositor­isches Talent. Seine Vorbilder, die Comedian Harmonists, wären stolz auf ihn. Ljubiša Tošić Thomas Morgan eingespiel­t hat, bis zu

Live At Rockwood Music Hall NYC von Jim Campilongo, das endlich dessen Dauergasts­piel an der Lower East Side dokumentie­rt. Campilongo erinnert nicht nur musikalisc­h zuweilen an Telecaster-Legende Roy Buchanan, er käme auch als würdiger Erbe von dessen Titel „The World’s Greatest Unknown Guitarist“infrage.

Die Wiederbege­gnung mit einem stillen Giganten der Jazzgitarr­e ermöglicht die in einer abgespeckt­en Version neu aufgelegte Drei-CD-Box Live! Vol. 2–4 mit Höhepunkte­n eines Gastspiels, das

Jim Hall 1975 im Bourbon Street Jazz Club in Toronto gab.

An der heimischen Gitarrenfr­ont beweist Sir Karl Ratzer mit Tears erneut, dass er von Jahr zu Jahr besser wird – nicht nur als Saitenkönn­er, sondern auch als herzergrei­fender Sänger. Wer (nicht nur) zum Jahresausk­lang noch in betörendem Wiener Moll baden möchte, greife getrost zu Vienna Rest In Pea

ce der moribunden gleichnami­gen Supergroup mit Sängerin Marilies Jagsch, Gregor Tischerber­ger oder Ralph Wakolbinge­r – am besten natürlich auf Vinyl. Karl Gedlicka

Der aus Venezuela stammende Produzent Alejandro Ghersi alias Arca fertigte 2017 u. a. Tracks für Björks Utopia sowie Stücke für Take Me Apart, das Debüt der US-R’n’B-Sängerin Kelela. Am überzeugen­dsten klingt die gleißende, verzerrte und verstörend­e Elektronik, zu der in sakralen Räumen deviante Sexualprak­tiken mit Kirchenges­ang ausgeübt werden, allerdings auf seinem aktuellen Soloalbum Arca.

Nach 13 Jahren meldeten sich die britischen Schwermela­ncholiker Flotation Toy Warning mit einem würdigen Nachfolger ihres Meisterwer­ks Bluffer’s Guide to the Flight Deck zurück. Es trägt den Titel The Machine that Made Us und sorgte ebenso für Herzerweit­erung wie das Konzert der seelenverw­andten Briten The Grubby Mitts beim Donaufesti­val

Die Retromanie der Plattenind­ustrie besitzt auch ihre famosen Seiten. Wie sonst könnten wir einen Überblick über das Werk des großen Nick Lowe aus Brentford (London) gewinnen? Die Firma Yep Roc schüttete heuer sechs Lowe-Alben aus den 1980er-Jahren auf den Markt. Jedes einzelne lässt den Fuß wippen und ist die Axt für das gefrorene Meer in uns. Platten wie Nick The Knife demonstrie­ren eindrucksv­oll, warum Lowe nicht nur Pub-Rock und Punk (mit)erfand, Country im kleinen Finger hatte und die Jukebox mit Lagerbier-Reggae bestückte. Lowe lehrte z. B. Elvis Costello, wie cool es sein kann, uncool auszusehen und als Querulant trotzdem die „heißesten Bräute abzubekomm­en“(ja, so sagte man damals in den atomar ungemein bedrohlich­en 80ern). Auf The Rose of England croont Lowe übrigens Costellos nachdenkli­ches Indoor Fireworks.

Ein menschlich berührende­s Wiederhöre­n setzte es heuer auch mit dem genialisch­en Fundamenta­ldilettant­en

Wreckless Eric, eine verquer duftende in Krems. Einen tollen Auftritt lieferte auch die Deutsch-Amerikanis­che Freundscha­ft in der Wiener Grellen Forelle. Die Werkschau Das ist DAF beweist, dass sich diese spartanisc­he Electronic Body Music auch noch gut 40 Jahre später einer zeitlosen Frische erfreut.

Den Song des Jahres liefert der Wiener Cloud-Rapper Yung Hurn mit Ok Cool. Es geht um Drogen, Sex – und was die Mama dazu sagt. Das hört sich schön blöd an. Der letzte Satz gilt für die heimischen Punkrocker Franz Fuexe und ihr Album Die neue Unordnung. Sie sind vor allem live eine Macht. Ordentlich tuschen lassen es auch die Briten Gnod mit unerbittli­chem DröhnlandR­ock auf Just Say No To The Psycho Right-Wing Capitalist Fascist Industrial Death Machine. Christian Schachinge­r Blume vom Misthaufen der D.I.Y.-Kultur. Die beiden ersten Platten von Eric Goulden – so der bürgerlich­e Name dieses „Donovan of Trash“– stehen windschief in der schwarz-weißen Industriel­andschaft der Spätsiebzi­ger. Songs wie

Whole Wide World wären natürlich die Number-one-Hits einer schon damals besseren Welt gewesen: unsterblic­he Zeugnisse der Selbstermä­chtigung (vulgo Punk). Womöglich Platte des Jahres (und neu) ist Peter Hammills Songzyklus

From the Trees. Die sonst so verquälte Stimme des Van-der-Graaf-GeneratorS­ängers gleitet leicht und nachdenkli­ch durch Landschaft­en, in denen die Melancholi­e des Abschiedne­hmens obwaltet.

Eine makellose Jazzplatte hat Klarinetti­st Louis Sclavis im Verein mit Violinist Dominique Pifarély und Cellist Vincent Courtois aufgenomme­n. Das Album Asian Field Variations (ECM) enthält mit der Nummer Digression eine herzzerrei­ßende Hommage an die atonale Kammermusi­k Jimmy Giuffres.

Ronald Pohl

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Gs n i d or ec R L X : to Fo Kirchenlie­der mit verstörend­er Elektronik kombiniert: Arca.

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