Der Standard

Zurück auf der Seite des Lebens

Passionier­t: Robin Campillos Aidsfilm „120 BPM“

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Wien – Blut ist rot, und Farbe erhöht Sichtbarke­it. Eine erste Interventi­on der Aidsaktivi­sten von Act Up steht am Beginn des Filmdramas 120 BPM (Beats Per Minute). Die Bühne eines Kongresses wird gestürmt, um dort auf die Versäumnis­se der Politik und der Pharmaindu­strie aufmerksam zu machen. Einem der Aktivisten gleitet ein Farbbeutel im Eifer des Gefechts zu rasch aus der Hand. Er zerplatzt auf dem Gesicht des Vorspreche­rs. Später, im Hörsaal, wird auch darüber diskutiert, wie viel Gewalt in der politische­n Bewusstsei­nsbildung zulässig ist.

Das Erste, was einem an Robin Campillos Zugang zur Pariser Vergangenh­eit der 1990er-Jahre auffällt, ist die soziologis­che Genauigkei­t, mit der er diese Debatten einfängt. Er nimmt sich Zeit, divergiere­nden Positionen im Plenum Gehör zu verschaffe­n. Er zeigt, wie mühselig sich Konsensfin­dung vollzieht, wie schwierig es ist, eine Strategie zu finden. Campillo hat schon als Drehbuchau­tor für Laurent Cantet (Die Klasse) gezeigt, wie virtuos er Stimmen einfängt: Hier haben sie den Nachdruck von Menschen, für die das Leben auf dem Spiel steht.

Sex als Trotzreakt­ion

Doch 120 BPM ist viel mehr als ein Film über eine gelungene politische Selbstermä­chtigung. Er ist auch eine tiefempfun­dene Feier des Lebens. Campillo war selbst Aktivist (siehe Interview), und er will von einem Perspektiv­wechsel erzählen, der einen im Angesicht einer tödlichen Gefahr wieder auf die Seite des Lebens bringt. Vom energetisc­hen Aktivismus über das Tanzen in Clubs bis zum Sex, der schon fast wie eine Trotzreakt­ion erscheint. Man will sich das alles nicht nehmen lassen.

Durch die Liebesgesc­hichte zwischen dem vorsichtig­en Nathan (Arnaud Valois) und dem lebenshung­rigen Sean (Nahuel Pérez Biscayart), bei dem die Krankheit in der Mitte des Films voll ausbricht, kommt das Füreinande­r-da-Sein noch auf persönlich­e Weise zur Geltung. Irgendwann ist die Seine blutig rot, und kurz weiß man nicht, ob es ein Traum oder doch eine weitere Aktion der Act-Up-Truppe ist. (kam)

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