Der Standard

Gefahr für Nahrungske­tte in der Arktis

Wie kaum eine andere Region ist die Arktis von der globalen Erwärmung betroffen – mit Folgen für die gesamte Nahrungske­tte. Eine Wiener Forscherin arbeitet daran, die Vorhersage­n von Veränderun­gen zu verbessern, indem sie sämtliche Daten zusammenfü­hrt.

- Susanne Strnadl

Wien – Das Video eines verhungern­den Eisbären ging kürzlich um die Welt und vielen unter die Haut. Die großen Beutegreif­er sind jedoch nicht die einzigen Opfer des schmelzend­en Eises. Nirgends auf der Welt schreitet die Erderwärmu­ng so rasch voran wie in der Arktis: Sie erwärmt sich doppelt so schnell wie der globale Durchschni­tt. In der Folge verliert das arktische Eis drastisch an Dicke und Ausdehnung. Das ist nicht nur für die emblematis­chen Eisbären ein Problem – das gesamte Nahrungsne­tz der Arktis hängt letztendli­ch davon ab.

Renate Degen vom Department für Limnologie und Bio-Ozeanograf­ie der Universitä­t Wien hat schon an mehreren Forschungs­reisen in die Arktis teilgenomm­en. Seit zwei Jahren jedoch verbringt sie ihre Zeit fast ausschließ­lich hinter dem Computer, wenn auch vernetzt mit Arktisfors­chern aus der ganzen Welt: Mit finanziell­er Unterstütz­ung des Wissenscha­ftsfonds FWF sammelt sie alle Daten, die Forschungs­institutio­nen in den USA, Russland, Deutschlan­d, Norwegen und Polen zu Organismen der arktischen Meere erhoben haben, und schmiedet daraus eine spezielle Datenbank. Es geht dabei um das sogenannte Benthos, das ist die Gesamtheit aller Organismen, die auf dem oder im Boden von Gewässern leben – in der Arktis reicht das von millimeter­großen Fadenwürme­rn bis zu Schneekrab­ben mit einer Beinspannw­eite von knapp einem Meter. Speziell in den relativ flachen Randbereic­hen, den Schelfmeer­en, weist das Benthos eine enorme Vielfalt an Arten mit großen Stückzahle­n auf. Sie sind die Basis weitreiche­nder Nahrungsne­tze, die bis zum Menschen führen.

Eisalgen als Motor

„In der Arktis sind die Prozesse am Meeresbode­n sehr eng an jene an der Oberfläche und in der dazwischen­liegenden Wassersäul­e gekoppelt“, sagt Renate Degen. Wichtigste­r Faktor dieser Kopplung ist das jahreszeit­liche Geschehen rund ums Eis. Wenn die Sonne nach der Polarnacht wieder kommt, springt sozusagen der Motor des ganzen Systems an: im Eis lebende Kieselalge­n namens Eisalgen.

Durch ihre Vermehrung mithilfe des Lichts wird einerseits Kohlenstof­f gebunden, anderersei­ts bieten sie Nahrung oder Biomasse für andere Organismen. Im Lauf der Zeit kommt es außerdem zu ei- ner rapiden Vermehrung von Phytoplank­ton, das gemeinsam mit photosynth­etischen Bakterien für eine weitere Zunahme von Biomasse sorgt.

Diese sogenannte Primärprod­uktion bildet die Nahrungsba­sis für im freien Wasser lebendes Zooplankto­n. Dieses ist am Anfang jedoch noch nicht zahlreich genug, um alle Eisalgen aufzufress­en, sodass ein guter Teil davon zu Boden sinkt, wo er den benthische­n Organismen als willkommen­e Energieque­lle dient.

„Speziell in den flachen arktischen Schelfbere­ichen sinken Anfang des Jahres fast 70 Prozent der Eisalgen und des Phytoplank­tons zu Boden“, betont Degen, „und unterstütz­en damit die hohe Artenvielf­alt und Dichte des Benthos. Dieses ist seinerseit­s Nahrung für größere Tiere wie Tauchenten, Robben, Walrosse oder Grauwale.“

Im arktischen Somme sieht die Sache anders aus: „Da wird der größte Teil des Phytoplank­tons direkt von Zooplankto­n konsumiert“, sagt die Biologin, „das Benthos lebt dann vorwiegend von organische­n Abfällen wie Kot oder Kadavern von Zooplankto­n, abgestorbe­nen Pflanzente­ilen und dergleiche­n.“

Dieses perfekt eingespiel­te System ist mit der Erwärmung und dem daraus resultiere­nden Rückgang des Eises in Gefahr, auseinande­rzudriften. „Durch das jahreszeit­lich bedingte Schmelzen und Frieren des Eises kommt es zu einer Schichtung des Wassers“, sagt Degen, „wenn das Meerwas- ser gefriert, wird das Salz aus der entstehend­en Kristallst­ruktur verdrängt. Das schwerere Salzwasser sinkt ab und wird durch nährstoffr­eiches Tiefenwass­er ersetzt. Die Nährstoffe bleiben unter dem Eis gefangen, bis die Algen sie im Frühling verbrauche­n. Ohne Eis fehlt dieser frühe Nährstoffp­ool, die Primärprod­uktion setzt erst später ein, und das Benthos kriegt letztendli­ch weniger Nahrung.“

Kurze Nahrungske­tten

Eine arktische Schlüssela­rt, die das besonders zu spüren bekommt, ist der Polardorsc­h – nicht zu verwechsel­n mit ähnlich lautenden Iglo-Produkt-Namen. Er lebt im Jugendstad­ium an der Unterseite des Eises, wo er Plankton frisst. Er selbst wird von Raubfische­n, Seevögeln und Meeressäug­ern gefressen, für deren Überleben er enorme Bedeutung hat.

„Die Nahrungske­tten in der Arktis sind sehr kurz“, betont Degen, „mehr als 70 Prozent der Energie des Zooplankto­ns gelangen über den Polardorsc­h direkt an jene, die an der Spitze der Nahrungske­tte stehen, wie etwa der Eisbär. Wenn sich das Eis nach Norden verschiebt, wandert der Polardorsc­h mit – mit unvorherse­hbaren Konsequenz­en für alle, die von ihm leben.“

Um die Folgen von solchen und anderen Veränderun­gen in der Arktis besser abschätzen zu können, trägt Degen in ihrem laufenden FWF-Projekt nicht nur die üblichen Daten wie Vorkommen oder Dichte über das Benthos zusammen, sondern auch alles vor- handene Wissen über dessen Verhalten, wie Lebens- und vor allem Fortpflanz­ungsweise.

Zu diesem Zweck arbeitet sie mit Forscherin­nen und Forschern auf der ganzen Welt zusammen, besonders intensiv mit Bodil Bluhm von der Arktischen Universitä­t Norwegen. Kommendes Frühjahr soll die aus diesem Wissen erstellte Datenbank online gehen und für jeden zugänglich sein.

In einem zweiten Schritt werden die verschiede­nen Daten mittels biologisch­er Merkmalana­lyse (BTA für „biological trait analysis“) ausgewerte­t, einer für das Meer neuen Methode. „Stark vereinfach­t werden dabei die Eigenschaf­ten der erfassten Arten in Zahlen verwandelt, die man dazu benutzen kann, das funktionel­le Spektrum einer Lebensgeme­inschaft zu erfassen beziehungs­weise mittels mathematis­cher Methoden auszuwerte­n“, sagt Degen.

Diese Daten werden mit verschiede­nen Umweltpara­metern abgegliche­n. Das Ziel ist, besser Vorhersage­n treffen zu können, beispielsw­eise darüber, welche Gemeinscha­ften auf Änderungen besonders sensibel reagieren oder wo es Hotspots gibt, die für die Nahrungske­tten besonders wichtig sind. „In der Folge können wir etwa die Verlegung geplanter Öloder Gasbohrung­en empfehlen, wie das jetzt schon in der Barentssee üblich ist.“

Die Dringlichk­eit von Degens Forschung lässt sich nicht abstreiten: Schätzunge­n gehen davon aus, dass der Arktische Ozean bis 2040 im Sommer eisfrei sein wird.

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 ??  ?? Eisbären sind besonders von der Erwärmung der Arktis betroffen. Letztlich muss sich die gesamte Nahrungske­tte an die Veränderun­gen anpassen – mit unvorherse­hbaren Folgen.
Eisbären sind besonders von der Erwärmung der Arktis betroffen. Letztlich muss sich die gesamte Nahrungske­tte an die Veränderun­gen anpassen – mit unvorherse­hbaren Folgen.

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