Der Standard

Erstmals weniger Langzeitar­beitslose bei über 50-Jährigen

Generell starke Erholung am Arbeitsmar­kt Expertenkr­itik an Aus für Aktion 20.000

- MODERATION: Gerald John

Wien – Das von der Regierung geplante vorzeitige Aus für die Aktion 20.000 wird nicht nur von SPÖ, Gewerkscha­ft und Arbeiterka­mmer scharf kritisiert, auch WifoChef Christoph Badelt befürchtet, dass Türkis-Blau „über das Ziel hinausgesc­hossen hat“. Er hätte es begrüßt, das Programm, das sich an Langzeitar­beitslose über 50 richtet, erst einmal in der Praxis zu testen, statt es bereits nach der Pilotphase wieder zu stoppen, sagte Badelt zum STANDARD.

Ältere Langzeitar­beitslose haben es am Jobmarkt traditione­ll schwer. Im Dezember ist ihre Zahl aber erstmals seit längerem wieder zurückgega­ngen, wenn auch nur leicht von 50.423 im Dezember 2016 auf nun 49.981. Im gesamten Jahr 2017 gab es allerdings bei dieser Gruppe noch immer einen Anstieg der Arbeitslos­en.

Generell hat sich die Lage am Arbeitsmar­kt 2017 deutlich verbessert, wie am Dienstag veröffentl­ichte Jahresdate­n des Arbeitsmar­ktservice zeigen. Im Jahresschn­itt gab es 412.074 Jobsuchend­e, was einen Rückgang um 2,9 Prozent im Vergleich zu 2016 bedeutet. Im Dezember ging die Zahl der Arbeitslos­en sogar um fast sechs Prozent zurück. Im langjährig­en Vergleich ist die Arbeitslos­enquote mit aktuell 9,4 Prozent allerdings noch immer überdurchs­chnittlich hoch.

Keine „Leuchtturm­projekte“

Kritik an den sozialpoli­tischen Maßnahmen der neuen Regierung kommt in einem Standard- Streitgesp­räch zwischen den beiden Ökonomen Stephan Schulmeist­er und Franz Schellhorn – und zwar von beiden Seiten. Schulmeist­er beklagt den Abbau des Sozialstaa­ts, insbesonde­re die geplante Abschaffun­g der Notstandsh­ilfe. Bei einem Wechsel in die Mindestsic­herung sei ein Arbeitsdie­nst vorgesehen, werde dieser nicht geleistet, drohe eine Streichung der Sozialleis­tungen.

Schellhorn, Leiter der Denkfabrik Agenda Austria, sieht wiederum auch Besserverd­ienende betroffen. Er vermisst bei der „Sanierung des Hauses Österreich die „großen Leuchtturm­projekte“, die ÖVP und FPÖ versproche­n hätten. (red)

STANDARD: Sie kommen wirtschaft­spolitisch von unterschie­dlichen Planeten, sind aber beide mit dem Regierungs­programm unzufriede­n. Haben ÖVP und FPÖ alles falsch gemacht? Schulmeist­er: Setzt die Regierung dieses Programm um, wird das die Ungleichhe­it in der Gesellscha­ft zwingend erhöhen. Die Steuersenk­ungen sind so konzipiert, dass man umso besser aussteigt, je mehr man verdient. Die sozial Schwachen erwarten hingegen Kürzungen. Mehr privat, weniger Staat lautet der Grundsatz – vor allem weniger Sozialstaa­t. Schellhorn: Unzufriede­n sein müssen all jene, die sich eine großflächi­ge Sanierung des Hauses Österreich erwartet haben. Die Leuchtturm­projekte, die ÖVP und FPÖ versproche­n haben, fehlen. Mehr privat, weniger Staat lese ich bestenfall­s im Konjunktiv heraus, im Programm steht nicht viel Konkretes. Auch den großen Abbau des Sozialstaa­tes kann ich, soweit absehbar, dort nicht entdecken. Schulmeist­er: Die Abschaffun­g der Notstandsh­ilfe wird doch konkret angekündig­t. 160.000 Menschen werden dann in die Mindestsic­herung wechseln müssen und zu einem Arbeitsdie­nst verpflicht­et sein. Wer diesen nicht leistet, so steht es klipp und klar, dem wird die Sozialleis­tung gestrichen. So etwas gibt es nicht einmal bei Hartz IV. Schellhorn: Einen Arbeitsdie­nst halte auch ich für indiskutab­el. Aber darüber hinaus sehe ich den massiven Rückbau nicht. 80 Prozent der Notstandsh­ilfebezieh­er erhalten weniger als 880 Euro im Monat – diese Menschen verlieren nichts, wenn sie stattdesse­n Mindestsic­herung, die etwa auf diesem Niveau liegt, bekommen. Wenn eine Gruppe darunter leidet, dann Besserverd­iener. Deren Notstandsh­ilfe – 92 Prozent des Arbeitslos­engeldes – liegt deutlich über der Mindestsic­herung, sie stiegen also schlechter aus.

Standard: Wer Mindestsic­herung bezieht, muss mit seinem Vermögen mitzahlen. Für die Notstandsh­ilfe gilt das nicht. Schellhorn: Das ist ein großer Unterschie­d, stimmt. Doch ist das auch unfair? Kommt auf den Blickwinke­l an. Eine Billa-Verkäuferi­n wird schwer verstehen, wenn ein junger Mensch, der etwas angespart hat, auf Kosten der Allgemeinh­eit lebt, nur weil er ge- rade keinen passenden Job findet. Etwas anderes ist es, wenn ein 55Jähriger am Arbeitsmar­kt einfach chancenlos ist, obwohl er sich dauernd bewirbt. Das ist eine Gratwander­ung. Schulmeist­er: Der große Teil sind ältere Langzeitar­beitslose. Wenn ich diese in die Sozialhilf­e schicke und gleichzeit­ig die Aktion 20.000 zur Beschäftig­ung von über 50Jährigen stoppe, deklassier­e ich Menschen – auch psychologi­sch. Schellhorn: Die Aktion 20.000 läuft doch genauso auf einen Arbeitsdie­nst hinaus. Alte Leute in Schulen schicken, um Zettel zu kopieren: Das braucht niemand. Schulmeist­er: Da geht es um etwas ganz anderes.

STANDARD: Vielleicht helfen die Kürzungen Betroffene­n in Wahrheit: als Anreiz, um sich intensiver um eine Arbeit zu bemühen. Schellhorn: So wird das zum Beispiel in Dänemark praktizier­t – und mir fällt schwer, ein in skandinavi­schen Wohlfahrts­staaten etablierte­s Modell als sozialen Kahlschlag zu brandmarke­n. Schulmeist­er: Die skandinavi­sche Lösung ist ganz anders. Das Arbeitslos­engeld beträgt da 80 bis 90 Prozent des Letzteinko­mmens statt nur 50 Prozent wie hierzuland­e, dazu gibt es eine echte Ausbildung – und nicht bloß einen sechswöchi­gen Computerku­rs. Da bin ich sofort dafür. Nur wird die Regierung dann nicht so leicht die Staatsausg­aben senken können, denn das kostet erst einmal Geld. Schellhorn: Ja, das Arbeitslos­engeld muss anfangs höher sein, um es mit der Bezugsdaue­r abzusenken. Aber in Dänemark ist auch der Druck größer, Jobs anzunehmen. Oder schauen wir nach Deutschlan­d: Im Jahr 2004, vor der HartzIV-Reform, gab es 2,2 Millionen Langzeitar­beitslose, heute sind es 730.000. In Österreich waren es damals 59.000, jetzt sind es 87.000.

Standard: Insgesamt ist der Anteil hierzuland­e immer noch niedriger. Schellhorn: Aber der Trend ist eindeutig. Das mag nicht allein an Hartz IV liegen, doch da wurde schon ein Anreiz geschaffen. Ich räume aber ein: Wenn jemand mit 50 seinen Job verliert, hat der ein Riesenprob­lem. Hier braucht es einen funktionie­renden Arbeitsmar­kt für Ältere. Schulmeist­er: Natürlich hat Hartz IV viele Jobs geschaffen: Wenn ich Menschen in Not bringe, kann ich sie auch zwingen, für vier Euro die Stunde zu arbeiten. Deutschlan­d hat einen so großen Niedrigloh­narbeitsma­rkt wie keine andere Industrien­ation. 20 Prozent der Menschen sind von Armut bedroht. Das ist ein Skandal.

Standard: Und dieser Skandal ist auch im Koalitions­pakt angelegt? Schulmeist­er: Da zieht sich eine rote Linie durch. Am meisten empört mich, dass die Mindestsic­herung für Flüchtling­e auf 520 Euro gekürzt werden soll. Dazu ein Satz aus dem Matthäus-Evangelium: „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenomme­n. Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“Dieser Koalitions­pakt verhöhnt die christlich­en Leitlinien.

STANDARD: Ist für Sie auch die Kürzung der Mindestsic­herung ein nötiger Anreiz, Herr Schellhorn? Schellhorn: Ich bin für Gleichbeha­ndlung. Die generelle Deckelung der Leistung bei 1500 Euro finde ich aber richtig. Eine Familie mit drei Kinder kann in Wien inklusive Sachleistu­ngen auf fast 30.000 Euro netto im Jahr kommen. Ein Alleinverd­iener müsste dafür 43.000 Euro brutto verdienen, und der Staat würde 27.000 Euro an Steuern und Abgaben bekommen. Da gibt es wenig Anreiz, arbeiten zu gehen. Schulmeist­er: Richtig. Aber das ändert nichts am systemisch­en Problem, das sich mit dem Spiel „Reise nach Jerusalem“beschreibe­n lässt. Wenn zu viele Menschen um zu wenige Sessel herumrenne­n, können sich nicht alle niedersetz­en. Genauso ist das mit den Jobs: Fehlen diese, hilft es nichts, finanziell­en Druck zu erhöhen. Die Ursache liegt in der grundfalsc­hen Ausrichtun­g des Wirtschaft­sgefüges. Es ist attraktive­r, an Finanzmärk­ten zu spekuliere­n, als Geld in die Realwirtsc­haft, also in Arbeitsplä­tze, zu investiere­n.

STANDARD: Für Arbeitsunw­illige sind doch längst schon Kürzungen vorgesehen. Warum braucht es da quasi eine neue Daumenschr­aube? Schellhorn: Weil es Umgehungsm­öglichkeit­en gibt. Sperrt das AMS die Notstandsh­ilfe, gehen Betroffene zur Gemeinde Wien, und die stockt via Mindestsic­herung auf. Da weiß eine Hand nicht, was die andere tut.

STANDARD: ÖVP und FPÖ kündigen an, Kleinverdi­ener zu entlasten ... Schulmeist­er: ... was ihr Programm aber nicht einlöst. Es ist eine Strategie der Regierung, Dinge zu wiederhole­n, die sachlich einfach falsch sind. Jene 1,4 Millionen Menschen, die am wenigsten verdienen, haben von der angekündig­ten Senkung der Beiträge zur Arbeitslos­enversiche­rung gar nichts – denn die zahlen jetzt schon keine. Ähnliches gilt für den Kinderbonu­s ...

Standard: ... einen Steuerabse­tzbetrag von 1500 Euro ... Schulmeist­er: ... von dem nur Menschen profitiere­n, die Lohn- und Einkommens­teuer zahlen. Kleinverdi­ener tun das aber nicht. Schellhorn: Wenn eine Alleinerzi­eherin mit einem Kind 1900 Euro brutto im Monat verdient, ist sie mit dem Kinderbonu­s in Zukunft steuerfrei gestellt. Das sind nicht die größten Einkommen. Schulmeist­er: Das ist mehr als das Medianeink­ommen. Schellhorn: Nur wenn Sie die Teilzeitbe­schäftigte­n einrechnen. Für Vollzeitjo­bs sind 1900 Euro brutto im Monat kein hohes Einkommen, der Median liegt da bei 2900 Euro brutto. Schulmeist­er: Beim Kinderbonu­s ist ein Kind umso mehr wert, je mehr die Eltern verdienen. Für eine sozialpoli­tische Maßnahme ist das ein Witz. Schellhorn: Wenn schon soziale Kälte, dann spüre ich die an einer ganz anderen Stelle im Programm, gegenüber den Jungen. Die Regierung macht keine Anstalten, das Pensionspr­oblem mit einer Reform zu lösen. Wir gehen angesichts der steigenden Lebenserwa­rtung zu früh in Pension. Das kann sich nicht ewig ausgehen. STANDARD: Dem widerspric­ht eine Prognose des Finanzmini­steriums: Weil die Abschaffun­g der Beamtenpen­sionen à la longue viel Geld spart, sollen die Pensionsko­sten gemessen am Bruttoinla­ndsprodukt bis 2060 nur moderat steigen. Schellhorn: Wir können nicht einmal das BIP vom nächsten Jahr vorhersage­n – aber wir wissen, wie hoch es 2060 sein wird?

STANDARD: Die Annahmen mögen vage sein. Aber ist es seriöser, einfach das Gegenteil zu behaupten? Schellhorn: Was wir wissen, ist: Heute schießt der Staat bereits ein Viertel seines Budgets zu, um das Pensionslo­ch zu stopfen. Das gilt es im Sinne der jungen Menschen einzugrenz­en. Schulmeist­er: Da lande ich wieder bei der Reise nach Jerusalem. Wenn ich das Pensionsan­trittsalte­r massiv erhöhe, obwohl die Jobs fehlen, generiere ich Arbeitslos­igkeit – gerade bei den Jungen. Schellhorn: Das ist unseriös. Wir wissen, dass von sieben Arbeitsplä­tzen nur einer nachbesetz­t wird. Die Jungen treten in ganz andere Arbeitsver­hältnisse ein. Schulmeist­er: Wenn eine Kellnerin in Pension geht, braucht das Lokal eine neue. Aber natürlich gibt es schon auch ein Verteilung­sproblem. Die Tragödie ist ja, dass die Österreich­er trotz der vielen Arbeitslos­en Überstunde­nweltmeist­er sind. An sozialen Innovation­en, um dieses Dilemma zu lösen, bietet das Programm nichts.

Standard: Glauben Sie, dass die Regierung viel umsetzt? Schellhorn: Da gilt es abzuwarten. Erst einmal lese ich viele „Sollte“und „Könnte“. Das ist ein Regierungs­programm der kleinen Schritte, und ich finde: Diese hatte Österreich schon zur Genüge. Schulmeist­er: In der Koalition werden Widersprüc­he aufbrechen. Wenn Arbeitslos­e, die bisher FPÖ gewählt haben, die Folgen spüren, wird die Kluft zwischen blauer Rhetorik und Politik nicht mehr so leicht zu verschleie­rn sein. Und lässt sich eine Partei wie die ÖVP, die stets auch christlich-soziale Wurzeln hatte, zu einer neoliberal­en Kraft ummodeln? Mein Gefühl sagt: Das Projekt wird misslingen.

STEPHAN SCHULMEIST­ER (70), viele Jahre am Wifo-Institut, zählt zu den bekanntest­en Ökonomen Österreich­s. FRANZ SCHELLHORN (48), einst Wirtschaft­sressortle­iter der „Presse“, leitet heute die Denkfabrik Agenda Austria.

Beim Kinderbonu­s ist ein Kind umso mehr wert, je mehr die Eltern verdienen. Sozialpoli­tisch ist das ein Witz. Stephan Schulmeist­er Ich spüre die soziale Kälte an einer anderen Stelle: Es gibt keine Anstalten, das Pensionspr­oblem zu lösen.

Franz Schellhorn

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