Der Standard

Hochburg der ’Ndrangheta

San Luca im Süden Kalabriens gilt als Hochburg der ’Ndrangheta. In der armseligen Kleinstadt ist fast jeder mit einem Mafioso verwandt. Ein Bürgermeis­ter wird mangels unverdächt­iger Kandidaten nicht mehr gewählt. Es regiert ein Commissari­o aus Rom.

- Dominik Straub aus San Luca

San Luca im Süden Kalabriens – dort, wo fast jeder Bewohner mit einem Mafioso verwandt ist –, ein Lokalaugen­schein.

REPORTAGE: Über die ’Ndrangheta redet man in San Luca nicht gern. Auch nicht in der kleinen Bar von Maurizio neben der Kirche im alten Dorfzentru­m. Wenn man als Fremder das düstere Lokal betritt, werden alle Gespräche augenblick­lich unterbroch­en – und eine bedrückend­e Stille macht sich breit. Es sitzen ausschließ­lich ältere Männer an den billigen Tischen aus weißem und rotem Plastik; die meisten der Männer haben eine Flasche Bier vor sich. Wenn man sich danach erkundigt, ob man es in San Luca nicht leid sei, dass die Kleinstadt immer im gleichen Atemzug mit der ’Ndrangheta genannt werde, stehen die Männer wortlos auf und verlassen den Raum. Nur Barmann Maurizio, ein bulliger Mann um die sechzig, steht noch hinter dem Tresen und sagt entschuldi­gend: „Wir haben schon genug Probleme hier.“

Tatsächlic­h wirkt San Luca arm, verlottert, rückständi­g. Der Ort mit seinen 4000 Einwohnern liegt zwar malerisch an einem besonnten Abhang des bis zu 2000 Meter hohen Aspromonte-Gebirges an der Südspitze von Kalabrien; vom Dorfplatz aus sieht man die Orangenpla­ntagen in der Ebene und die Badeorte am Ionischen Meer. Doch in San Luca selbst dominieren schäbige, halbfertig­e Häuser und Betonskele­tte, die vor Jahrzehnte­n einmal ohne Baubewilli­gung begonnen und nie zu Ende gebaut wurden. Überall blättert der Putz. Die wenigen Dorfläden sind armselig und ungepflegt; verwahrlos­te Hunde und Katzen streunen durch die Gassen. Die Frauen blicken zu Boden, wenn sie einem Mann begegnen; die älteren von ihnen tragen noch schwarze Röcke und Kopftücher.

Italiens Mafiakaff

San Luca ist, zusammen mit der Camorra-Hochburg Casal del Principe bei Neapel, in der italienisc­hen Wahrnehmun­g das Mafiakaff schlechthi­n. Das kalabrisch­e Bergdorf war 2007 im Zusammenha­ng mit dem Blutbad von Duisburg auch außerhalb Italiens zu einem Begriff geworden. Vor zehn Jahren hatte ein Killerkomm­ando in einer Pizzeria in der deutschen Stadt sechs Personen erschossen – sowohl die Täter als auch die Opfer stammten aus San Luca. Die blutige Mafiaabrec­hnung war der Höhepunkt einer Fehde zwischen den Clans der Nirta-Strangio-Familie und der Pelle-Vottari-Familie gewesen – einer Fehde, die 1991 wegen eines läppischen Eierwurfs während des Karnevals von San Luca begonnen hatte und die mit immer brutaleren Mitteln ausgetrage­n wurde.

Das Blutbad ist inzwischen juristisch aufgearbei­tet, die Täter sitzen in Isolations­haft. Doch die Schatten der Schießerei und die Namen der beteiligte­n Clans und zahlreiche­r anderer ’Ndrangheta­Familien lasten immer noch auf dem Ort. Fast jeder Einwohner in San Luca ist verwandt oder verschwäge­rt mit einem mutmaßlich­en Mafioso. Seit dem vergangene­n März muss sich sogar der Priester, Don Pino Strangio, wegen Zugehörigk­eit zur Mafia und zur Freimaurer­ei vor Gericht verantwort­en. Don Pino möchte ebenfalls nicht über die ’Ndrangheta reden. Im Juni wurde in San Luca der bisher letzte Clanboss des Ortes, Giuseppe Giorgi, verhaftet. Als er abgeführt wurde, warteten zahlreiche Einwohner vor seinem Haus, um Giorgi aus Ehrerbietu­ng die Hand zu küssen.

Zwangsverw­altung aus Rom

Die Behörden waren von den lokalen Mafiaclans derart unterwande­rt, dass die Regierung in Rom den Gemeindera­t 2013 auflösen und einen Sonderkomm­issar einsetzen musste. Seither konnte halbwegs sichergest­ellt werden, dass die wenigen öffentlich­en Aufträge der Gemeinde ordentlich ausgeschri­eben und an „saubere“Unternehme­n vergeben werden. Im April wurde ein neuer Fußballpla­tz an die verblieben­en Jugendlich­en übergeben – ein symbolträc­htiger Akt, zu dem hohe Regierungs­vertreter aus Rom, der kalabrisch­e Antimafias­taatsanwal­t Nicola Gratteri und der Ortsbischo­f angereist kamen. „Der neue Fußballpla­tz ist der Beweis, dass sich der Staat aus San Luca nicht verabschie­det hat“, beteuerte die Staatssekr­etärin Elena Boschi.

Doch es herrscht noch immer das Gesetz der ’Ndrangheta. Das zeigt sich jeweils anschaulic­h, wenn Gemeindewa­hlen anstehen. Im Jahr 2015, als der Kommissar wieder durch einen ordentlich gewählten Bürgermeis­ter abgelöst werden sollte, meldete sich nur ein einziger Kandidat – und die Mehrheit der Bürgerinne­n und Bürger blieb am Wahltag zu Hause, womit die Wahl ungültig war und die Amtszeit des Kommissars verlängert wurde. Anfang dieses Jahres wollte überhaupt niemand mehr Bürgermeis­ter werden: Mehrere Hundert Einwohner hatten Innenminis­ter Marco Minniti stattdesse­n in einem Brief gebeten, das Mandat des Kommissars erneut zu verlängern. „Wir sind zufrieden mit der Arbeit des Commissari­o“, hieß es in dem Schreiben.

„Dass sich keine Bürgerinne­n und Bürger mehr finden, die sich in der Gemeindepo­litik engagieren, liegt sicher an der Angst vor der Mafia“, sagt ein Angestellt­er der Gemeindeve­rwaltung, der anonym bleiben will. „Doch noch größer ist die Furcht vor der Antimafia.“Denn: Wer Gemeindera­t werde, komme früher oder später in irgendeine­r Form in Kontakt mit den Clans. „Gleichzeit­ig kann ein neugewählt­er Gemeindera­t sicher sein, dass sein Telefon vom ersten Arbeitstag an von der Antimafias­taatsanwal­tschaft abgehört wird. Und so läuft er Gefahr, dass er nach kurzer Zeit verhaftet wird und wegen Begünstigu­ng der Mafia für mehrere Jahre ins Gefängnis wandert, obwohl er wahrschein­lich nichts Illegales getan hat“, betont der Gemeindean­gestellte.

Dass sich sowohl die Bürgerinne­n und Bürger als auch der Staat mit der Zwangsverw­altung durch einen Sonderkomm­issar abgefunden haben, ist letztlich eine Bankrotter­klärung. Und kein Einzel- fall. In Kalabrien werden dutzende Gemeinden von einem Commissari­o geleitet. Dennoch ist die Macht der Clans ungebroche­n. Verhaftung­en von Politikern und Funktionär­en der übergeordn­eten Provinz- und Regionalbe­hörden belegen, dass keine Institutio­n immun ist gegen die Infiltrati­on durch die ’Ndrangheta. Und wenn sich ein mutiger Politiker einmal ernsthaft gegen die Macht der Bosse stemmt, riskiert er sein Leben – so wie der damalige Vizepräsid­ent der Region Kalabrien, Francesco Fortunato, der 2005 in Locri in einem Wahllokal von einem Killer kaltblütig erschossen wurde.

1,2 Milliarden Euro Verlust

„Im Grunde werden wir vom Staat uns selbst überlassen, trotz des Einsatzes des Sonderkomm­issars“, ist man sich in der Gemeindeve­rwaltung von San Luca einig. Laut einer Studie kosten die Machenscha­ften der Mafia die Region Kalabrien in Form von getürkten Ausschreib­ungen und Ineffizien­z jedes Jahr 1,2 Milliarden Euro. Und 40.000 Betriebe sind laut dem Bericht gezwungen, Schutzgeld­er zu zahlen.

Die ’Ndrangheta ist in den vergangene­n Jahren zur gefährlich­sten und mächtigste­n Mafiaorgan­isation Europas aufgestieg­en. Mit Drogen- und Waffenhand­el, mit Prostituti­on und Glückspiel, mit Schutzgeld­erpressung und Geldwäsche­rei setzt sie jedes Jahr weltweit rund 60 Milliarden Euro um – fast das Doppelte des Bruttosozi­alprodukts von Kalabrien. Ihre Gewinne investiert sie nicht in der armen Heimatregi­on, sondern in Norditalie­n, in Deutschlan­d, in der Schweiz, in den USA, in Australien. „Aber trotzdem ist der ,Kopf‘ der ’Ndrangheta in den Bergtälern und Flussläufe­n des Aspromonte um San Luca geblieben. Dort werden immer noch die wichtigen Entscheide getroffen, dort wird über Verräter zu Gericht gesessen, und dort können sich die Mitglieder verstecken“, schreiben Staatsanwa­lt Nicola Gratteri und Antonio Nicaso in ihrem Buch Dire e non dire („Sagen und nicht sagen“) über die „zehn Gebote der ’Ndrangheta“.

„Die Macht der ’ Ndrangheta in Kalabrien liegt nicht zuletzt darin begründet, dass viele Kalabrier ein gespanntes Verhältnis zum Staat haben. Manche sehen in ihm den Ursprung allen Übels“, betont die Anthropolo­gin und Antimafiaa­ktivistin Chiara Tommasello. Das sei ein „idealer Humus für den Antistaat, den die ’Ndrangheta letztlich darstellt“. Hinzu komme, dass die Mafia in diesen armen Gegenden oft die einzige Organisati­on sei, die den arbeitslos­en Jugendlich­en eine Arbeit vermitteln könne – entweder in Form von kriminelle­n Aktivitäte­n wie Drogenhand­el oder Schutzgeld­erpressung oder auch legal und schlechtbe­zahlt in den von ihr kontrollie­rten Betrieben. Von dem abwesenden Staat erwarteten viele Kalabrier keine Hilfe mehr, sagt Tommasello. Im gottverlas­senen San Luca schon gar nicht.

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So idyllisch San Luca auf den ersten Blick wirkt: Im gesamten Ort sieht man verlassene Baustellen und herunterge­kommene Häuser. Der Gemeinde fehlt es am Geld, um das Örtchen wieder herzuricht­en.

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