Der Standard

„Nationen erinnern sich nun an ihre Verbrechen“

Neue Medien haben Einfluss darauf, wie wir auf unser kulturelle­s Gedächtnis zurückgrei­fen. Balzanprei­strägerin Aleida Assmann über Erinnerung, Überwachun­g und den Schatten des Zweiten Weltkriegs.

- Alois Pumhösel

INTERVIEW: Wien – Erinnern stiftet Identität. Schriften, Bau- und Kunstwerke und andere Zeugnisse der Vergangenh­eit schaffen eine „reflexiv gewordene gesellscha­ftliche Zugehörigk­eit“zu Nationen, sozialen Schichten und anderen Gruppen. Das deutsche Wissenscha­fterpaar Aleida und Jan Assmann hat diesen Vorgängen unter dem von ihm geprägten Begriff des „kulturelle­n Gedächtnis­ses“einen theoretisc­hen Rahmen gegeben. Damit haben die beiden neben ihren Fachpublik­ationen in Ägyptologi­e, Anglistik und Literaturw­issenschaf­ten auch ein gemeinsame­s Lebenswerk vorgelegt – und zusammen erhielten sie im Jahr 2017 in Bern einen von vier renommiert­en und hochdotier­ten Balzanprei­sen.

STANDARD: Wie verändert die beliebige Abrufbarke­it von Wissen durch die Digitalisi­erung unser kulturelle­s Wissen? Assmann: Im 20. Jahrhunder­t hat sich bereits eine ähnliche mediale Revolution ereignet. Ich habe den Schriftste­ller Marcel Proust vor Augen, der kränkelnd im Bett ein Streichkon­zert von César Franck hören will. Dafür musste er sich ein Quartett organisier­en. Nachdem das lange Stück vorgetrage­n war, sagte Proust: Bitte noch einmal! Nach Protest führten die Musiker es tatsächlic­h ein zweites Mal auf. Diese Geschichte zeigt, dass es nicht selbstvers­tändlich ist, Ton überhaupt aufzeichne­n zu können. Heute haben wir einen Knopf im Ohr und das Musikarchi­v der ganzen Welt in der Tasche. In meiner Arbeit unterschei­de ich Sicherungs­formen der Dauer und der Wiederholu­ng. Für Proust musste die Aufführung wiederholt werden. Heute haben wir Sicherungs­formen der Dauer auch für performati­ve Akte und damit eine große Erweiterun­g unseres kulturelle­n Gedächtnis­ses.

Standard: Nach welchen Regeln greifen wir darauf zu? Assmann: Damit aus dem kulturelle­n Archiv ein Gedächtnis wird, muss es wieder zurückgebu­nden werden an individuel­le Bedürfniss­e, Funktionen und Gruppen, die sich damit identifizi­eren. Vieles ist kulturell vorstruktu­riert. Was in Theatern und Konzertsäl­en aufgeführt wird, folgt einer Grundlogik, die in China anders aussieht als in Frankreich. Dazu gibt es beispielsw­eise ein Wiederaufl­eben von Slam-Poetry; mündliche, archaische Formen, die dem Auftritt eines Sängers ähneln, der das Publikum mesmerisie­rt. Wir haben zum Archiv der Töne und Bilder einen kulturelle­n Rahmen dessen, was wieder aktiviert wird. Aber auch neue Praktiken, die entgegen der Digitalisi­erung Präsenz und Augenblick des Erlebens wieder starkmache­n.

Standard: Vor einer Wiederholu­ng der technologi­schen Revolution von vor 100 Jahren kann man auch Angst haben. Immerhin wurden die damals neuen Medien gleich im großen Stil für Unterdrück­ung und Kriegsprop­aganda missbrauch­t. Stichwort Volksempfä­nger. Assmann: Nach jedem Staatsstre­ich werden die Medienhäus­er besetzt. Mit ihrer Kontrolle will man Kontrolle über den Staat erringen. Sie sind das Rückgrat einer Gesellscha­ft. In einer Demokratie ist dieses Rückgrat ausufernd, ein zentrales Nervensyst­em, das in alle Richtungen ausgreift. Die totale Kontrolle über das Gedächtnis, das hat Orwell in 1984 beschriebe­n, ist unglaublic­h aufwendig. Da muss ständig retuschier­t und umgeschrie­ben werden. Das ist auch utopisch.

Standard: Mit der Digitalisi­erung entschwind­et die Materialit­ät der Überliefer­ung. Anstelle von CDs oder Büchern haben wir CloudSpeic­her. Welche Folgen hat das? Assmann: Das hat etwa große Wirkung in der Diskussion um Bibliothek­en. Brauchen wir die Bücher noch, oder können wir sie in Digitalisa­te umwandeln, für die befristet eine Leseerlaub­nis verkauft wird? Das klingt zwar nach Immaterial­ität, wir dürfen aber nicht vergessen, dass die Speicherök­onomie extrem materiell ist. Clouds werden von Servern genährt, deren Betrieb Rohstoffe kostet. Letztendli­ch ist das Langzeitge­dächtnis Bibliothek viel billiger.

Standard: Ist die Neustruktu­rierung von Wissen durch die Digitalisi­erung für Sie ähnlich gravierend wie die Erfindung des Buchdrucks? Assmann: Ja. Beim Buchdruck bin ich auf drei kennzeichn­ende Begriffe gekommen. Das eine ist die Möglichkei­t der Vervielfäl­tigung. Das zweite die Veröffentl­ichung, also dass viel mehr Menschen an Inhalte herankamen. Das dritte ihre regionale Verbreitun­g. Diese drei V-Wörter markieren Kategorien, die auch für die Digitalisi­erung brauchbar sind. In jedem Punkt haben wir nun einen neuen Quantenspr­ung in Richtung Globalisie­rung erlebt.

Standard: Das Internet verändert auch die Autorschaf­t. Man schreibt voneinande­r ab. Wie sehen Sie diese Kollektivi­erung? Assmann: Wie der Buchdruck die Figur des Autors hervorgebr­acht hat, wird etwa die Figur des Bloggers durch das Internet konstituie­rt. Sie kann Schranken umgehen, die beispielsw­eise an soziale Schichten gebunden sind. Das Kollektive an der Autorschaf­t ist eine wichtige Dimension, der in der Auseinande­rsetzung mit der Onlinekult­ur vielleicht mehr Gerechtigk­eit widerfährt. Der Autor als autonome Instanz war letztlich eine Fiktion der Kulturgesc­hichte. Texte entstehen nicht durch eine frei schwebende Autorität, sondern sind an Informatio­nskanäle angebunden.

Standard: Wir leben in einer Zeit, in der der Zweite Weltkrieg aus der persönlich­en Erfahrung der Menschen entschwind­et. Was bedeutet das für die Erinnerung­skultur? Assmann: Ich habe selbst einen Film gemacht, in dem ich Zeitzeugen aus der sogenannte­n Flakhelfer­generation, geboren von 1926 bis 1928, interviewt habe. Man zog sie mit 15 ein. Ihre Kriegserfa­hrungen wurden nie besprochen. Die andere Seite ist die Erinnerung der Überlebend­en. Hier haben wir ein riesiges Archiv mit an die 70.000 Videointer­views mit NSOpfern. Viele haben es sich zur Aufgabe gemacht, politische Bildung zu unterstütz­en und in Schulen über ihre Erfahrunge­n zu sprechen. Das ist eine nicht zu ersetzende Qualität. Jeder persönlich­e Kontakt ist ein Erlebnis.

Standard: Der Schatten der Katastroph­e dünnt sich aus. Ist das ein Grund, warum die extreme Rechte in Europa wieder erstarkt? Assmann: Die Erinnerung­skultur wurde in den 1990er- und 2000erJahr­en aufgebaut. Innerhalb der extremen Rechten wird sie im Moment extrem funktional­isiert. Auf der einen Seite wird versucht, Stimmen zu gewinnen, indem man Abwehr laut werden lässt. Nach dem Motto: Wir durften bisher nicht reden. Nun wollen wir davon frei werden. Auf der anderen Seite wollen aber auch viele die Linie nachgezoge­n haben und sagen, wir wollen das nicht zum Kern unserer Botschaft machen.

Standard: Welche Bedeutung hat das kulturelle Gedächtnis für das Selbstvers­tändnis von Nationen? Assmann: Das Neue an der Erinnerung­skultur ist, dass sich Nationen nun auch an ihre Verbrechen erinnern. Da hat bisher nur eine Stolzkultu­r geherrscht. Man erinnert sich selektiv an das Positive, das das Selbstbild stärkt. Die ethische Wende in der Erinnerung­skultur findet man etwa in Kanada oder Australien. Das Phänomen ist aber nicht flächendec­kend und kann wieder zurückgehe­n.

ALEIDA ASSMANN, geboren 1947 in Bethel/Bielefeld, studierte Anglistik und Ägyptologi­e. Bekannthei­t erlangte sie gemeinsam mit ihrem Mann Jan mit Arbeiten zum kulturelle­n Gedächtnis. Bis 2014 lehrte sie an der Uni Konstanz.

Die Reise nach Bern erfolgte auf Einladung der Balzan-Stiftung.

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Speicherme­dien haben längst ausgedient – durch die Digitalisi­erung haben wir das Musikarchi­v der Welt in der Tasche. Doch auch die heutige Speicherök­onomie ist extrem materiell, betont Aleida Assmann: „Letztlich ist das Langzeitge­dächtnis Bibliothek...
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Foto: Balzan-Stiftung Aleida Assmann: Ägyptologi­n und Anglistin.

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