Der Standard

Ausgesetzt auf dem metaphysis­chen Schauplatz des Lebens

Mit der Schau „Traum oder Wirklichke­it“würdigt das Madrider Caixaforum den italienisc­hen Meisterkün­stler Giorgio de Chirico

- Jan Marot aus Madrid

Die visionären Bilderwelt­en Giorgio de Chiricos (1888–1978) sind farblich von immense r Strahlkraf­t. Der, der sich selbst „pictor summum“, der „höchste Maler“, nannte, setzt auf rigoros-geometrisc­he Ordnung, klare Linien und Formen. Seine Pittura metafisica gilt als Italiens früher Vorreiter des Surrealism­us.

Eine seltene Chance, in de Chiricos Welt einzutauch­en, bietet aktuell das Caixaforum Madrid. 143 Werke versammelt die Retrospekt­ive, ein chronologi­sch konzipiert­er Rundgang durch alle Schaffensp­erioden. Gezeigt werden überwiegen­d Gemälde, die Skulpturen als Motive dienten, wie Beunruhige­nde Musen (Gemälde 1917, Plastik 1974), Reuiger Minotaurus oder Der große Troubadour.

Kuratiert von Mariastell­a Margozzi und Katherine Robinson, zeigt die Schau „die zwei Wege, die de Chirico zeitlebens eingeschla­gen hat“, so Robinson. „Zum einen das Überrasche­nde, das Metaphysis­che, seine italienisc­hen Piazze. Eine Welt abseits des Alltäglich­en und des Realen.“Zentral sind de Chiricos „manichini“, anonyme Gliederpup­pen. „Zum anderen seine Rückbesinn­ung auf Neobarock und Neoklassiz­ismus.“Und sein neometaphy­si- sches Spätwerk der 1960er- und 1970er-Jahre wie die Mysteriöse­n Bäder (Bagni misteriosi). Ein Motiv, das in den Illustrati­onen zu Jean Cocteaus Mythologie (1934) erstmals auftaucht.

De Chirico, als Sohn italienisc­her Eltern 1888 im griechisch­en Volos (Thessalien) geboren, studierte erst in Athen, später in München an der Akademie der Bildenden Künste. Vor dem Ersten Weltkrieg die Erleuchtun­g: Er sehe nun anders, erklärte de Chirico später „seine Vision“, die er 1910 in Florenz hatte. Verknüpft mit frühen Einflüssen, die ihn zeitlebens prägen sollten, wie die Traumbilde­r seines Lehrmeiste­rs Max Klinger oder die symbolisti­sche Gedankenwe­lt Arnold Böcklins.

Friedrich Nietzsches Beschreibu­ngen von menschenle­eren Piazze in Turin verinnerli­chte de Chirico – insbesonde­re die dort im Winterlich­t spürbare „unglaublic­he Einsamkeit“. Der Mensch, sofern sichtbar, ist unkenntlic­h klein. Wirft aber lange, bedrohlich­e Schatten auf seiner Piazza Metafísica. Überwältig­end das Spiel mit unmögliche­n Verhältnis­sen aus Licht und Perspektiv­e, das der junge Weltenbumm­ler bis 1915 in Paris perfektion­ierte.

Gesichtslo­se Puppen

In Paris legte de Chirico auch den Grundstein für seine Karriere. Sein frühes Werk war 1911 im Salon d’Automne ausgestell­t und von Picasso und Apollinair­e rezipiert worden. René Magritte soll in Tränen ausgebroch­en sein, als er de Chiricos Liebeslied (1914) erstmals zu Gesicht bekam.

In den Kriegsjahr­en war de Chirico nicht kampffähig und abseits der Front stationier­t. Er zeichnete seine später zum Markenzeic­hen gewordenen Schneiderp­uppen. Gesichtslo­s wie die Menschen der Zeit, die einem Weltunterg­ang gleichkam. Eingebette­t in skurrile architekto­nische Szenarien, de Chiricos rätselhaft­e „metaphysis­che Innenräume“, die wie Schaufenst­er aussehen. Sein Einfluss wirkte auf sein direktes Umfeld, den Futurismus von Carlo Carrà, mit dem er 1917 die Scuola Metafisica ins Leben rief. Auf Dadaisten und Surrealist­en wie den jungen Max Ernst oder Salvador Dalí, und darüber hinaus auf die Neue Sachlichke­it (George Grosz), den Magischen Realismus, die PopArt und die Konzeptkun­st.

Als Theoretike­r und Maler vollzog de Chirico in den frühen 1920er-Jahren eine Kehrtwende. Er suchte Halt bei den alten Meistern, allen voran Raffael und Signorelli, wie er in seiner Schrift Die Rückkehr zum Handwerk (1919) darlegte. Hellenisti­sche Tempelruin­en, wiederkehr­ende Säulenfrag­mente und die Mythologie finden sich in seinem Versuch einer Restaurati­on, die zum Bruch mit Bretons Surrealist­en führt.

In der neometaphy­sischen Spätphase strotzten seine Traumwelte­n neuerlich vor enigmatisc­h-facettenre­ichem Unsinn: Er setzte in Odysseus’ Heimkehr (1973) den Irrfahrer als anlandende Statue ins Setting eines Wohnzimmer­s in Ithaka, mit Tempel, Sofa und Meerblick. Sinnbild für eine seiner Konstanten, den ewigen Konflikt der Innen- mit der äußeren Welt. pwww. caixaforum.es

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In seinem Spätwerk setzte Giorgio de Chirico noch einmal zur Versöhnung des Menschen mit dem traurigen Los seiner beunruhige­nden Einsamkeit an: im Bild „Héctor y Andrómaca“, 1970.

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