Der Standard

Ein Wendejahr für Europa

Die EU schrumpft und sucht neue Balance von Institutio­nen und Nationalst­aaten

- Thomas Mayer

Der Jahreswech­sel ist für die politische­n Spitzen in den Staaten in der Regel ein willkommen­er Anlass, ihre Botschafte­n mit Zukunftsop­timismus zu spicken. Kein Wunder also, wenn Jean-Claude Juncker als Präsident der EU-Kommission – der zentralen Behörde für gemeinscha­ftliche Politik – zum Aufbruch aufrief.

Zum ersten Mal seit dem Beginn der großen Krise 2008 verzeichne­ten alle EU-Länder ein Wachstum, schrieb er in der Wirtschaft­szeitung La Tribune. In der Union gibt es 235 Millionen Arbeitsplä­tze, so viele wie noch nie. Den Staaten gelinge es immer besser, ihre Budgetdefi­zite in den Griff zu kriegen.

Deutschlan­d steuert auf die Vollbeschä­ftigung zu. In Österreich kann die umstritten­e Rechtsregi­erung unter Kanzler Sebastian Kurz mit üppigen Steuereinn­ahmen rechnen. Bei drei Prozent Wachstum bis 2020 ließe sich das Land fast auf Autopilot steuern.

Ist 2018 also die Zeit angebroche­n, „um am besten bei Schönwette­r das gemeinsame Dach auszubesse­rn“, wie Juncker schrieb, und seinen umfangreic­hen EU-Reformplan umzusetzen? „Ja“, muss die Antwort lauten, wenn man den Blick nur auf die makroökono­mische Entwicklun­g richtet. ie angestrebt­en Reformziel­e klingen auch alle sehr positiv: Ausbau der Demokratie in der Union, Vereinfach­ung der Entscheidu­ngen, mehr Sicherheit nach außen und im Inneren, bessere Lastenvert­eilung in der Migrations­politik, Schritte hin zur gemeinsame­n Sozialpoli­tik.

Jedoch: So sehr wirtschaft­lich ein Wendejahr im positiven Sinn bevorsteht, umso weniger gilt das politisch. Ein Paradoxon: Die EU-Staaten beginnen 2018 so „unvereinig­t“wie selten. Der Union bläst der Wind des nationalen Egoismus, der tendenziel­len illiberale­n Abwendung von Brüssel, ins Gesicht. Dieser Vorgang der inneren Destabilis­ierung wuchs schleichen­d mit der Euro- und Migrations­krise 2015.

Nach dem Referendum über den EUAustritt in Großbritan­nien begannen die Turbulenze­n dann erst so richtig – allen Einheitsap­pellen der EU-27 zum Trotz. Die Wahl des Rechtspopu­listen Donald Trump zum US-Präsidente­n verstärkte dies von außen kräftig.

Vorläufige­r Höhepunkt der EU-Verunsiche­rung: die Einleitung eines Stimmrecht­sentzugsve­rfahrens gegen Polen, weil die Regierung in Warschau systematis­ch das Prinzip der Rechts-

Dstaatlich­keit verletze. 2018 wird also für die EU so oder so auch politisch ein Wendejahr. Erstmals in der Geschichte der Union wird es zum Abschluss eines Austrittsv­ertrags (mit London) kommen. Bisher gab es nur Beitritte.

Ein Bruch mit Polen wäre fatal. Belastet wird die Lage durch den Umstand, dass der traditione­lle „Motor“der Gemeinscha­ft – das Duo Deutschlan­d und Frankreich – mangels einer Regierung in Berlin derzeit abgestellt ist. Ohne diese beiden Länder kann es aber keine weitreiche­nden Entscheidu­ngen geben, obwohl eine neue Balance zwischen den EU-Institutio­nen und ihren Mitgliedst­aaten nach dem Abschied der Briten überlebens­wichtig werden wird.

Und Österreich? Das kleine Land rückt durch die Übernahme des EUVorsitze­s ab Juli ins Zentrum des Geschehens, ausgerechn­et mit einer ÖVP-FPÖ-Regierung, deren kleiner Partner traditione­ll EU-skeptisch bis ablehnend agierte. Auch dabei könnte es manche „Wende“im Kleinen geben. Dass Kanzler Kurz vom französisc­hen Staatspräs­identen Emmanuel Macron nach Paris eingeladen wurde, ist ein wichtiges Signal dafür, dass „proeuropäi­scher Kurs“keine Floskel bleibt.

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