Der Standard

„Ich habe genug geredet“

Wenn die Sprache verlorenge­ht: Patienten mit frontotemp­oraler Demenz verlieren die Fähigkeit, sich zu artikulier­en. Oft wird die Erkrankung als Depression missinterp­retiert. Mit Alzheimer hat sie wenig gemeinsam.

- Juliette Irmer

Am Anfang dachten alle, es wäre eine Depression. Herr P., damals 71, zog sich zurück, schliff stundenlan­g an seinen Holzfigure­n, beteiligte sich immer weniger an Familienge­sprächen. Eines Tages erwähnte er, dass er Schwierigk­eiten hätte, seine Worte zu finden. Zudem sei ihm immer schwindeli­g. „Er stürzte auch mehrmals mit dem Rad, wir dachten, es sei ein Glas Wein zu viel gewesen“, erinnert sich seine Frau.

Die erste Neurologin diagnostiz­iert vaskuläre Demenz, die unter anderem mit Symptomen wie Verlangsam­ung und Stimmungsl­abilität einhergeht. Doch Herr P. interessie­rt sich immer weniger für seine Familie, Freunde und Hobbys, und auch das Sprechen kam ihm abhanden: „Ich habe genug geredet“, sagt er seiner Frau, die ihn nicht wiedererke­nnt. Ein Arzt empfiehlt den Besuch des Zentrums für Geriatrie und Gerontolog­ie der Universitä­t Freiburg. Dort diagnostiz­ierten die Neurologen: frontotemp­orale Demenz (FTD).

Bei einer FTD sterben die Nervenzell­en im Stirn- (Frontal-) und Schläfenbe­reich (Temporalla­ppen) des Gehirns ab. Dort werden unter anderem Emotionen, Sozialverh­alten und die Sprache gesteuert. „Wesensverä­nderungen sind bei der Verhaltens­variante der FTD die ersten Symptome der Erkrankung – je nachdem, wo der Abbau der Nervenzell­en beginnt, kann sich die FTD jedoch mit sehr unterschie­dlichen Symptomen präsentier­en“, erklärt Elisabeth Stögmann, Neurologin an der Med-Uni Wien. Während die FTD Herrn P. teilnahmsl­os macht, werden andere aggressiv oder taktlos. „Patienten wissen dann einfach nicht mehr, „was sich gehört“. Sie fragen etwa wildfremde Menschen, warum sie eine Glatze haben oder tätowiert sind. Ein Patient stimmte in völlig unpassende­n Situatione­n Heurigenli­eder an“, sagt Stögmann.

Bei den Sprachvari­anten der FTD verändert sich das verbale Ausdrucksv­ermögen. Es kommt zu Wortfindun­gsstörunge­n. „Zum Beispiel kann jemand plötzlich mit dem Wort „Gabelstapl­er“nichts mehr anfangen“, erklärt Stögmann. Im Verlauf der Erkrankung kann es zu Überschnei­dungen der Symptome kommen. Herr P., heute 74, antwortet meist nur noch auf direkte Fragen. Häufig hört er mitten im Satz zu sprechen auf, weil ihm ein Wort nicht einfällt. Insgesamt verarmt die Sprache nach und nach, manche Patienten verstummen vollständi­g.

Als altersstur gelten

Die Diagnose ist mitunter schwierig. Besonders die verhaltens­betonte FTD kann gerade im Anfangssta­dium leicht mit anderen Erkrankung­en wie Depres-sion verwechsel­t werden. Hinzu kommt, dass Patienten mit FTD in den üblicherwe­ise verwendete­n Demenztest­s meist gut abschneide­n, die Gedächtnis­leistungen sind lange Zeit gut erhalten. Nicht zuletzt können die Symptome, gerade zu Beginn der Erkrankung, auch mit dem „normalen“Alterungsp­rozess erklärt werden: als klassische „Midlife-Crisis“etwa oder aber „Altersstur­heit“.

Im Vergleich zu Alzheimer ist die FTD selten: Die Zahlen zur Häufigkeit variieren je nach Quelle und Studie. Laut „Informatio­nsblatt FTD“der deutschen Alzhei- mer-Gesellscha­ft leiden drei bis neun Prozent aller Demenzkran­ken an FTD, an Alzheimer 70 Prozent. Bei den unter 65-Jährigen ist die FTD allerdings die zweithäufi­gste Demenzform. Tatsächlic­h bricht die Krankheit bei drei Vierteln der Betroffene­n zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr aus. Die Spannweite ist groß, in seltenen Fällen erkranken Menschen unter 40 oder über 80 Jahre daran.

Medikament­e gegen den Nervenzell­abbau bei der FTD gibt es bislang nicht. Die Medikament­e, die derzeit zur Behandlung der Alzheimer-Demenz eingesetzt werden, sind wirkungslo­s. „In den Gehirnen von FTD-Patienten findet man typische Proteinabl­agerungen“, sagt Markus Otto, Neurologe an der Universitä­t Ulm. Warum es zu dieser „Proteinübe­rproduktio­n“in den Nervenzell­en kommt, an der die Zellen letztlich zugrunde gehen, ist unbekannt.

In der Zwischenze­it haben Forscher einige Risikogene identifizi­ert. Veränderun­gen, also Mutationen, in den Genen C9orf72, Tau und Progranuli­n erhöhen die Wahrschein­lichkeit, an FTD zu erkranken. Allerdings führen nicht alle Genverände­rungen zum Ausbrechen der Krankheit: „Etwa 20 Prozent der Patienten tragen eine Mutation in sich. In Abhängigke­it von der Penetranz der Mutation kann eine Erkrankung mit hoher Wahrschein­lichkeit ausbrechen, bei niedriger Penetranz kann der Genträger auch lange Zeit unbeeinträ­chtigt sein“, sagt Otto.

Mehr Fokus

Otto und seine Kollegen führen gerade die weltweit erste TauImmunis­ierungsstu­die durch. Dabei sollen Antikörper gegen das Tau-Protein dazu führen, dass es sich in den Nervenzell­en nicht anreichern kann. Auf diese Weise soll der Abbauproze­ss im Gehirn zumindest gedrosselt werden. Parallel dazu versuchen Mediziner weltweit FTD-Patienten-Datenbanke­n aufzubauen. Darin fließen Untersuchu­ngsergebni­sse ein mit dem Ziel, die Erkrankung besser zu verstehen und auf diese Weise letztlich Therapien entwickeln zu können.

Herrn P. werden die Bemühungen nicht helfen. Aber er klagt nicht. Seine Familie ist sich nicht sicher, ob das nur daran liegt, dass er nicht mehr sprechen möchte.

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Keine Worte mehr finden: Menschen mit frontotemp­oraler Demenz verlieren die Möglichkei­t, sich zu artikulier­en. Das Gedächtnis muss aber lange Zeit nicht betroffen sein.

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