Der Standard

Ein Motor gegen die Unterwerfu­ng

Kann man die soziale Scham auch politisch nutzen? Mit „Gesellscha­ft als Urteil“wendet sich der Starsoziol­oge Didier Eribon noch einmal seinem Erfolgsbuc­h „Rückkehr nach Reims“zu.

- Dominik Kamalzadeh

Wien – Wenn ein französisc­her Intellektu­eller Rückschau auf die eigene Herkunft hält, hat das normalerwe­ise nicht das Zeug zu einem Bestseller. Mit Rückkehr nach Reims, Didier Eribons 2015 auf Deutsch veröffentl­ichtem Buch über die soziale und sexuelle Scham, der er sich offen zu stellen wagte, verhielt es sich anders.

Die Selbstanal­yse wurde zu einem Buch der Stunde. Und zwar nicht nur der Aufrichtig­keit seines Kampfes halber, sondern vor allem deshalb, weil es eine kluge Erklärung dafür bot, warum große Teile der Arbeitersc­hicht den Klassenkam­pf aufgegeben haben und mittlerwei­le nach rechts abgedrifte­t sind. Selbst ganze Theaterabe­nde wurden schließlic­h auf Grundlage von Rückkehr nach Reims ausgericht­et.

Mit Gesellscha­ft als Urteil (Edition Suhrkamp) ist nun eine Studie Eribons erschienen, die Kommentar und Weiterentw­icklung des Erfolgsbuc­hs zugleich ist. Ein Metabuch, das einerseits die Falten durchleuch­tet, die er beim Schreiben über seine intellektu­elle Emanzipati­on bewusst in Kauf genommen hat. Anderersei­ts geht es dem Soziologen aber auch um einen Versuch der Verallgeme­inerung seines Projekts über „Klassenflü­chtige“und deren „Odysseen der Wiederanei­gnung“. Der Begriff stammt von Pierre Bourdieu, einem der wichtigste­n Lehrmeiste­r Eribons. Er beschreibt die Anstrengun­gen und Umwege, die es braucht, um sich seiner Herkunftsk­ultur wieder anzunähern.

Eribon wirft Bourdieu vor, seine eigene Kindheit in seiner Habitusfor­schung vernachläs­sigt zu haben. Um nicht zu verklären, müsse man nämlich stets auch die Selbstiden­tifikation hinterfrag­en: Eribon will darauf hinaus, dass einen die Scham über die Herkunft oder das sexuelle Außenseite­rtum auch nach dem sozialen Aufstieg nicht loslässt. Erfolgt die Abkehr aus der Arbeiterkl­asse als Bruch, ist die Rückaneign­ung nur in Form einer analytisch­en Tätigkeit möglich. Ziel ist es, die verlassene Welt (bei Eribon das Arbeitermi­lieu seiner Eltern) besser zu verstehen, um der sozialen Scham direkter, man könnte sagen: politische­r zu begegnen.

Der feine Unterschie­d

Schon an diesen Grundfrage­n kann man sehen, dass Gesellscha­ft als Urteil auf einen „ontologisc­heren“Befund als sein Vorgänger hinausläuf­t. Das macht Eribons mäandernde Überlegung­en allerdings nicht weniger lesenswert. Es ist ein Buch über die feinen Unterschie­de, die der 64Jährigen auch bei jenen Denkern herausarbe­itet, die ihn geprägt haben: Neben Bourdieu ist das Foucault, der bei der Konfrontat­ion mit der sexuellen Scham behilf- lich war. Als Homosexuel­ler hat Eribon stets auch diesen Teil seiner Identität fest im Blick. Doch auch Sartre und Simone de Beauvoir gehören in seine „Sentimenth­ek“, Autoren, deren Großzügigk­eit im Denken er schätzt. Oder jene, in denen er Komplizen findet: Jean Genet oder die im Deutschen gerade erst wiederentd­eckte Schriftste­llerin Annie Ernaux.

An den Werken zweifeln

Mit Ernaux kommt Eribon auch zu einem der spannendst­en Punkte des Buches. Er fragt sich, um welchen Preis die Aufnahme in das ersehnte Reich der legitimen Kultur erkauft ist. Als Gelehrter würde er nie an den Werken selbst zweifeln, die ihm dazu verholfen haben, eine Sprache gegen die Unterdrück­ung und damit Solidaritä­t zu entdecken.

Doch als linker Soziologe erkennt er die Normen der „intellektu­ellen Zirkel“und die Logik, mit der weiterhin Hürden reproduzie­rt werden, um Eliten kleinzuhal­ten, zu festigen. Der Konformitä­tsdruck ist letztlich dafür verantwort­lich, dass die soziale Herkunft verschwieg­en wird. Den Außenseite­rn fehlt das Selbstbewu­sstsein, um auf ihrer Geschichte zu bestehen.

Auch Ernaux’ Versuch, den Einfluss ihrer Mutter, der sie das Studium verdankte, mit jenem der bürgerlich­en Feministin de Beauvoir zu verknüpfen überzeugt Eribon mehr schlecht als recht. Am Beispiel seiner eigenen Großmutter, die sich einem traditione­llen Frauenbild verweigert hat, führt er vor, warum dieser als Arbeiterin kein Glück beschieden war.

Eigene Herkunft

Es nimmt einen für Eribon ein, dass er einen Weg sucht, mit der eigenen Herkunft in ein produktive­res Verhältnis zu treten, ohne das aufkläreri­sche Ideal der Befreiung über Bord zu werfen. Die Romantisie­rung der Arbeiterkl­asse ist jedenfalls kein Weg. Eribon versucht, die Scham selbst als Motor der Demokratis­ierung zu bewerten: als eine Form der verkörpert­en Unterwerfu­ng, die gegen jedes gesellscha­ftliche Urteil stets aufs Neue Widerstand generiert.

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Mit „Gesellscha­ft als Urteil“tritt Didier Eribon mit seiner eigenen Herkunft in ein produktive­res Verhältnis. Das Ideal der Aufklärung wird aber von ihm nicht über Bord geworfen.

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