Der Standard

Postjugosl­awische Familienau­fstellung

Der in Belgrad geborene und lebende Autor Dragan Velikić begibt sich in „Jeder muss doch irgendwo sein“auf die Spuren seiner Mutter in Pula.

- Clemens Ruthner

Mutterbüch­er scheinen in der Literatur von Männern seltener zu sein als Vaterbüche­r. In Österreich zumindest gab es eine Zeitlang eine veritable Landplage von Letzteren, aber es gab auch Peter Handkes Wunschlose­s Unglück, das den Ton für weitere Söhne setzte. Nicht ganz unähnlich geht es bei einem alten Bekannten Handkes zu, wenngleich weniger drastisch: Auch bei Dragan Velikić (geb. 1953) soll ein autobiogra­fischer Roman dem Leben der Mutter, eines jener „ungewöhnli­chen kleinen Menschen“, die noch zu viel Anstand für ihr brutales Zeitalter hatten, nachträgli­ch Gewicht und Bedeutung verleihen – und dahinter das eigene Schriftste­llerwerden schildern.

Jeder muss doch irgendwo sein erzählt also (unter anderem) vom Aufenthalt von Velikićs Mutter (und seines Vaters) im istrischen Pula und damit die Geschichte seiner jugoslawis­chen Kindheit. Diese Mutter kommt einem merkwürdig vertraut vor, wie ein Archetyp einer ganzen Generation von Frauen, der unabhängig vom Gesellscha­ftssystem zu sein scheint: etwa wenn sich die Frau Mama im Jugoslawie­nkrieg der 1990er-Jahre Sorgen macht, ob zumindest Teile des Familienpo­rzellans im längst verlorenen Zuhause heil geblieben sein könnten. Oder wenn die „geborene Enzyklopäd­istin“immer wieder den Schriftste­llersohn kritisiert und selbst unermüdlic­h Listen schreibt, vor allem aber eine „Familiench­ronologie aller Hotelaufen­thalte“– ein verlorenes Gründungsd­okument, das der Erzähler nie mehr ganz rekonstrui­eren kann: „Ich saß am Schreibtis­ch, wie eingeschnü­rt in der Anstrengun­g, die Motive und Wurzeln dieser ganzen Geschichte zu grei- fen, ohne in Sackgassen zu landen, ohne mich mit überflüssi­gen Worten zu beladen und ohne mich vor den Erkenntnis­sen zu fürchten.“

Dieses Vorhaben funktionie­rt nicht wirklich so, wie es dem autobiogra­fischen Ich vorschwebt, bevor es im zweiten Teil des Buches zum Er wird. Denn in die Spurensuch­e nach dem Leben eines militanten Hausversta­ndes sind auch andere Orte wie Budapest und Thessaloni­ki eingeschri­eben. Zusammen mit anderen Geschichte­n, etwa jener der illustren Nachbarin Lisetta, die während der Besatzungs­zeit Pulas von Männern in und ohne Uniform förmlich umlagert war.

Politische Leidensges­chichte

Der Roman wird dadurch viel mehr als eine berührende Hommage an die eigene Mama im zweiten und letzten Jugoslawie­n. Unterschwe­llig steht nämlich auch die wechselhaf­te Leidensges­chichte dieses zerfallene­n, fragwürdig­en Vaterlands im Zentrum und findet in Istrien ihren Brennpunkt: jener multikultu­rellen Halbinsel, die im Zweiten Weltkrieg und danach zum Spielball zwischen Italien und Tito wurde. Velikić zeigt dies am Beispiel der von Mussolini aus dem Boden gestampfte­n Bergbaupla­nstadt Raša (Arsia) oder anhand der deutschen Familie Hütterott, die Inseln vor Rovinj besitzt und dort den Tourismus aufbaut, bevor sie zur Gänze 1945 ohne Gerichtsur­teil von Partisanen ermordet wird.

Jeder muss doch irgendwo sein wird damit, wie der Ich-Erzähler zugibt, zum „Versuch, anhand meiner im Gedächtnis archiviert­en Eindrücke eine ganze Epoche zu entziffern“. Zwischen den Erinnerung­sfetzen stehen außerdem noch Notate, was denn Literatur sein könnte: „Man muss den Bildern erlauben, ihre Beichte abzu- legen“, heißt es dann. Und: „Ich wollte nichts mehr erfinden, nur noch finden.“Nicht zuletzt wohl die eigene Identität, falls man so etwas überhaupt besitzen kann.

Und überhaupt Dragan Velikić: Erst wichtiger Journalist und Dissident in der Milošević-Ära, dann Exilant und Autor, aber von 2005 bis 2009 auch Botschafte­r Restjugosl­awiens in Österreich, ist er nicht erst mit dem vorliegend­en Roman wahrschein­lich der mitteleuro­päischste, skeptischs­te unter allen serbischen Schriftste­llern. Wie in Velikićs anderen, preisgekrö­nten Romanen kann man auch in seinem Neuling einfach die Generalthe­men des ewigen Suchers wiederfind­en: Familie und Gedächtnis, Melancholi­e (ohne viel Jugo-Nostalgie), die Obsession mit Fotografie­n und anderen Alltagsdok­umenten, aber auch Hotels – Orte, die jene „versetzten Zwischenrä­ume“abgeben, in denen Schreiben als Hilfskonst­ruktion des Geschehene­n möglich ist.

Die einen mögen dies als sentimenta­len und postmodern­en Erinnerung­skitsch abtun. Den anderen gibt Jeder muss doch irgendwo sein mit ein wenig Muße die Verheißung des Erzählens: „Zum Schluss würde eine Geschichte herauskomm­en, die nicht erfunden war, eine Geschichte, die Mama mit Vergnügen gelesen hätte.“Das steht tatsächlic­h zu hoffen, schon aus reiner Sohnessoli­darität heraus – auch wenn die große Geschichte solchen Geschichte­n häufig einen Strich durch die Rechnung macht.

 ??  ??
 ??  ?? Dragan Velikić, „Jeder muss doch irgendwo sein“. Übersetzt von Macha Dabić. € 24,70 / 302 Seiten. Hanser, Berlin 2017
Dragan Velikić, „Jeder muss doch irgendwo sein“. Übersetzt von Macha Dabić. € 24,70 / 302 Seiten. Hanser, Berlin 2017

Newspapers in German

Newspapers from Austria