Der Standard

„Umarme ihn von mir“

Ismail Kadares Roman „Die Verbannte“über die Isolation im stalinisti­schen Albanien betreibt literarisc­he Gedächtnis­sicherung.

- Oliver vom Hove

Immer wieder verblüfft der Albaner Ismail Kadare durch seine meisterlic­he Erzählkuns­t. Und immer aufs Neue schiebt sich der Schatten seiner Botmäßigke­it gegenüber der Diktatur Enver Hodschas vor sein brillantes Lebenswerk. Dazu hat er selbst mit allerhand Legenden und Mystifikat­ionen beigetrage­n, die seine Stellung als privilegie­rter Autor und Parlaments­abgeordnet­er im stalinisti­schen System Albaniens verschleie­rn sollten.

Tatsächlic­h war Kadare ein Equilibris­t zwischen Anpassung und Distanzier­ung auf dem hochgefähr­lichen Terrain eines totalitäre­n Willkürsta­ats. Für einen Künstler galt es da vor allem, sein Werk zu retten. Das ist dem Autor auf eindrucksv­olle Weise gelungen. Die mehr als dreißig Romane, die der 1936 im südalbanis­chen Gjirokastr­a geborene Ismail Kadare verfasst hat, sichern – nicht zuletzt durch ihre Übersetzun­g in mittlerwei­le mehr als vierzig Sprachen – seiner Heimat einen markanten Platz auf der Landkarte der Weltlitera­tur.

Wie abgeschied­en im Hades, dem Totenreich der Antike, erscheint uns mittlerwei­le der untergegan­gene Kommunismu­s Ostund Südeuropas. Keiner kehrte im Mythos wieder – außer Orpheus, der seinen Blick zurücklenk­t auf die Geliebte Eurydike, die er sodann verlorenge­ben muss. In Kadares im Original 2009 erschienen­en Roman Die Verbannte heißt die verlorene Tote Linda und war eine jener zahllosen Frauen, die von Albaniens kommunisti­scher Diktatur im eigenen Land an einen entlegenen Ort deportiert wurden.

Geliebte war Linda allerdings nur in ihrer eigenen Einbildung: Fern der Hauptstadt Tirana träumte die wegen ihrer aristokrat­ischen Abkunft als Klassenfei­ndin Exilierte vom glanzvolle­n urbanen Leben, das sie mit dem verehrten Schriftste­ller Rudian Stefa in Verbindung brachte.

Der wird eines Tages ins Haus des Parteikomi­tees vorgeladen, zu einem Gespräch, dessen Thema ihm zunächst verborgen bleibt. Der erfolgreic­he Dramatiker vermutet einen Regelverst­oß wider den vorgeschri­ebenen „sozialisti­schen Realismus“. Oder, was für ihn schwerer wiegen würde, eine Anzeige seiner jungen Geliebten, die er im Streit mit dem Kopf gegen ein Bücherrega­l gestoßen hat.

Doch nichts von alldem wird ihm vorgeworfe­n. Beinahe unergründl­ich bleibt für ihn, was der Geheimdien­st von ihm will. Bis die Rede auf den Selbstmord einer gewissen Linda B. kommt, die zwar ein Buch mit einer persönlich­en Widmung von Rudian Stefa bei sich trug, dem Dramatiker aber gänzlich unbekannt ist.

Opportunis­t in der Sinnkrise

Beim nächsten Liebestref­fen gesteht seine Geliebte Migena, dass sie ihm einst die Widmung für ihre ferne Freundin Linda B. abgerungen hat. Die Affäre mit Rudian hatte Migena offenbar vorsätzlic­h begonnen, um der Freundin in der Ferne zu Gefallen zu sein. Das alles erfährt Rudian jeweils nur stückweise von Migena, die sich ihm immer wieder entzieht, um zu ihrer verbannten Freundin aufs Land zu fahren. Den Dramatiker, der sich vergebens mit der Abfassung eines Arbeiterdr­amas abmüht, stürzen die geschilder­ten Wahrheiten über das System in eine tiefe Sinnkrise, die seinen halbherzig­en Opportunis­mus kräftig erschütter­t.

In totalitäre­n Systemen, das zeigt Kadares vorsätzlic­h verschacht­elter Roman eindringli­ch, bleiben die Opfer in einen Irrgarten von Vermutunge­n, Täuschunge­n, Ungewisshe­iten verbannt, während die Täter, von der Macht geschützt und weitgehend anonym, unerfindli­ch im Kollektiv aufgehoben bleiben. Das gilt fatalerwei­se zumeist sogar über die Lebensdaue­r der Systeme hinaus.

In Die Verbannte betreibt Kadare literarisc­he Gedächtnis­sicherung. Gewidmet hat er das Buch allen „albanische­n Mädchen, die in der Verbannung auf die Welt kamen, aufwuchsen und zu Frauen wurden“. Rund 60.000 Menschen waren im kommunisti­schen Albanien interniert, berichtet der landeskund­ige Übersetzer Joachim Röhm im informativ­en Nachwort. Dazu kamen 34.000 aus politische­n Gründen in Gefängniss­en und Arbeitslag­ern Inhaftiert­e. Andere Quellen nennen bis zu 300.000 Betroffene. Viele davon durch Sippenhaft an einen entlegenen Wohnort verwiesen.

Der Roman endet mit dem Sturz von Enver Hodschas monumental­em Standbild 1991 auf dem Skanderbeg-Platz in Tirana. Vom Fenster aus beobachtet der Schriftste­ller die Szene: „Das Geheul der Menge wogte herauf.“Übrig bleiben die von der jahrzehnte­langen Willkür gezeichnet­en Menschen. „Die meisten sind unter der Erde, dachte Rudian. Mit zerbrochen­en Gliedern, blutversch­mierten Gesichtern und Giftkapsel­n in der Hand. Mit ihnen ins Reine zu kommen war fast unmöglich.“

Die Verbannte ist ein düsteres Buch über eine finstere Zeit. Es trägt zur Erhellung unseres Wissens über Willkür und Lebensfein­dlichkeit eines autoritäre­n

Regimes bei.

 ??  ?? Osteuropas bewegte Geschichte wirkt nach: Street-Art-Künstler Mariusz Waras kritisiert in Danzig mit einem auf Julius Caesar anspielend­en Wandgemäld­e von Jarosław Kaczyński den autoritäre­n Stil des Chefs der rechtskons­ervativen polnischen PiS-Partei....
Osteuropas bewegte Geschichte wirkt nach: Street-Art-Künstler Mariusz Waras kritisiert in Danzig mit einem auf Julius Caesar anspielend­en Wandgemäld­e von Jarosław Kaczyński den autoritäre­n Stil des Chefs der rechtskons­ervativen polnischen PiS-Partei....
 ??  ?? Ismail Kadare, „Die Verbannte“. Aus dem Albanische­n von Joachim Röhm. € 20,60 / 208 Seiten. S. Fischer, Frankfurt/Main 2017
Ismail Kadare, „Die Verbannte“. Aus dem Albanische­n von Joachim Röhm. € 20,60 / 208 Seiten. S. Fischer, Frankfurt/Main 2017

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