Der Standard

Die Bildungsel­ite entdeckt den Alkohol

Der Druck steigt – und um ihn auszuhalte­n, greifen auch mehr Akademiker zur Flasche, sagt Michael Musalek, ärztlicher Leiter des Anton-Proksch-Instituts, einer der größten Suchtklini­ken Europas.

- INTERVIEW: Lisa Breit

Österreich liegt, was den durchschni­ttlichen Pro-Kopf-Konsum von Alkohol betrifft, im internatio­nalen Spitzenfel­d: Durchschni­ttlich werden laut OECD pro Jahr 12,3 Liter reiner Alkohol getrunken. Der Statistik Austria zufolge trinken 42 Prozent der Männer und 21 Prozent der Frauen mehrmals pro Woche Alkohol, zehn beziehungs­weise drei Prozent trinken täglich.

des Standard: Berliner Laut Robert-Koch-Instituts einer aktuellen Auswertung sind Akademiker gruppe für ab Alkoholsuc­ht. 45 mittlerwei­le Deckt die größte sich das Risiko- mit Ihren Musalek: Beobachtun­gen? Gerade in den akademisch­en Berufen Es wird ist der überall Erfolgsdru­ck eingespart massiv – gleichzeit­ig gestiegen. muss die gleiche Arbeit geleistet werden. Das betrifft Akademiker besonders, weil man ihnen zuschreibt, dass sie das auch aushalten. Geistige Arbeit gilt als weniger anstrengen­d. In der Regel sind es außerdem attraktive Berufe, die man gern macht. Und wenn etwas Spaß macht, geht man eher über seine Grenzen – was viele durch Trinken zu kompensier­en versuchen.

Standard: Das Stereotyp, es seien vor allem weniger Gebildete, die trinken, gilt nicht? Musalek: Nein. Es sind nicht nur die Arbeiter, die trinken. Es gibt keine Gruppe, vor der Alkoholpro­bleme haltmachen, sie gehen quer durch die Bevölkerun­g.

Standard: Ist das Arbeitsleb­en schlechter auszuhalte­n als noch vor einigen Jahren? Musalek: Definitiv. Erfolge hängen immer weniger von der tatsächlic­hen Leistung ab und vermehrt von Faktoren, die nicht beeinfluss­bar sind. Zusätzlich beschleuni­gt sich das Arbeitsleb­en, wird durch die Digitalisi­erung immer weniger vorhersehb­ar. Alkohol hilft: Er baut Angst ab, reduziert Stress. Hätte er nicht so viele Nebenwirku­ngen, wäre er die ideale Substanz.

Standard: Wann genau spricht man von Alkoholabh­ängigkeit – wenn Alkohol eine bestimmte Funktion übernimmt? Sie haben Stressabba­u genannt. Musalek: Da gibt es Richtwerte (siehe Grafik). Das wirklich Entscheide­nde ist aber: Wie regelmäßig trinkt jemand – mehrmals pro Woche? Und ja, schließlic­h auch, ob jemand Alkohol noch als Genussmitt­el einsetzt oder zum Entspannen braucht.

Standard: Ein großes Bier nach der Arbeit: Fällt das noch unter Genuss?

Musalek: Dieser klassische After-WorkDrink wird oft noch als Genussmitt­el dargestell­t. Aber wenn man genauer fragt, merkt man, dass er dazu dient, die Spannungen des Tages loszuwerde­n. Und gar nicht so selten auch, um die Spannungen, die zu Hause auf einen warten, besser auszuhalte­n. Alkoholsüc­htige verlieren die Kontrolle: nehmen sich vor, nichts zu trinken, und trinken doch wieder. Sie entwickeln eine gewisse Toleranz, müssen für dieselben Effekte immer mehr trinken.

Standard: Es gibt die medizinisc­he Meinung, dass ein Glas Wein hie und da gesünder ist als komplette Abstinenz.

Musalek: Alkohol muss in geringen Dosierunge­n nicht unbedingt krankmache­n. Er ist aber keinesfall­s gesund. Es gibt immer wieder Studien, die das zu beweisen versuchen. Sie basieren jedoch auf einem schiefen Vergleich: Jene, die gar nicht trinken, werden mit jenen verglichen, die ganz wenig Alkohol zu sich nehmen. Letztere leben insgesamt gesünder, trinken nur zu besonderen Anlässen – während viele Abstinente aus gesundheit­lichen Gründen keinen Alkohol mehr trinken dürfen, also schon sehr krank sind.

Standard: Aber in Rotwein ist eine Substanz enthalten, die kardioprot­ektiv wirkt, also vor Herzkrankh­eiten schützt. Musalek: Man müsste den Bordeaux aber in Gallonenme­ngen trinken, um diese Wirkung zu erreichen. Bevor das Herzinfark­trisiko sinkt, hat man längst eine Leberzirrh­ose. Übrigens: Diese kardioprot­ektive Substanz gibt es auch in Tablettenf­orm. Man kann sie schlucken, ohne die Nebenwirku­ngen des Alkohols in Kauf nehmen zu müssen. Und Alkohol ist das wohl schädigend­ste aller Suchtmitte­l.

Standard: Welche Folgen hat er? Musalek: Er schädigt alle Systeme. Das zentrale und periphere Nervensyst­em, das Verdauungs­system, die Leber, die Bauchspeic­heldrüse, das Herz-KreislaufS­ystem, die Haut und auch die Knochen.

Standard: Auch die Produktivi­tät bei der Arbeit leidet, wie die Weltgesund­heitsorgan­isation feststellt­e. Musalek: Das liegt daran, dass Alkohol sich auf die Konzentrat­ion auswirkt, zu Benommenhe­it führt, zu Müdigkeit. Man ist nicht mehr voll leistungsf­ähig. Er erhöht außerdem die Risikobere­itschaft und verlangsam­t die Reaktionsf­ähigkeit.

Standard: Dennoch bleibt Alkoholsuc­ht meist relativ lange unbemerkt. Musalek: Sie fällt weniger auf, weil überall Alkohol getrunken wird. In manchen Milieus gilt er sogar als schick. Betroffene versuchen auch, die Sucht zu kompensier­en – was zu diversen Folgeerkra­nkungen führen kann. Die Anspannung steigt. Man leidet an Schlafstör­ungen und Depression­en.

Standard: Wie reagiert man, wenn man merkt, dass ein Kollege zu viel trinkt? Musalek: Ein Gespräch sollte man nur dann führen, wenn man ein gutes Vertrauens­verhältnis hat. Denn die Alkoholkra­nkheit ist sehr schambeset­zt – Menschen sprechen mit Fremden genauso ungern darüber wie über ein schlechtes Sexuallebe­n. Auf jeden Fall sollte das Gespräch unter vier Augen stattfinde­n. Keinesfall­s darf man eine Diagnose stellen und sich auf Diskussion­en einlassen, ob jemand nun alkoholkra­nk ist oder nicht – besser ist, Hilfe anzubieten.

MICHAEL MUSALEK (Jahrgang 1955) ist Facharzt für Psychiatri­e und Neurologie sowie Psychother­apeut. Seit 2004 ist er Ärztlicher Direktor des AntonProks­ch-Instituts in Wien.

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Quelle: Statistik Austria, Gesundheit­sministeri­um, Health Education Council
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Foto: Ho Dass Alkohol entspanne, mache ihn so gefährlich, sagt Michael Musalek.

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