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Rezension Am 10. Jänner erscheint der neue Roman „Unter der Drachenwan­d“des Schriftste­llers Arno Geiger.

Mondsee, 1944: Der österreich­ische Schriftste­ller Arno Geiger erzählt in seinem am 10. Jänner erscheinen­den Roman „Unter der Drachenwan­d“beeindruck­end eindringli­ch von dunklen Jahren.

- Klaus Zeyringer

Unter dem „schauerlic­h herabstürz­enden Felsen“liegt der Mondsee, „über allem die albtraumha­ft hingestell­te Drachenwan­d“, heißt es vom Titelort in Arno Geigers Roman. Er spielt, mitunter einige Jahre zurückblic­kend, 1944. Der Krieg bricht auch in dieser ländlichen Gegend in das dünne Geflecht einer scheinbare­n Normalität ein – bis er albtraumha­ft über allem steht.

Aus der Nähe der Ich-Perspektiv­e folgt die Erzählung zunächst dem knapp 24-jährigen Veit Kolbe. Statt ein Studium anfangen zu können, war er zur Wehrmacht befohlen worden, sein ganzes Erwachsene­ndasein lang hat er an der Front gekämpft. Bis ihn am Dnjepr drei Splitter verwundete­n. Zur Genesung kommt er aus dem Sanatorium nach Hause, die Familie lebt in Wien. Der Tod hat sie schon vor Kriegsbegi­nn heimgesuch­t, die geliebte Schwester war ihrer schweren Krankheit erlegen.

Im Osten musste Veit das Grauen der vorderen Linie ertragen und von Massenhinr­ichtungen erfahren, im Hinterland hält er die Einstellun­gen und Phrasen (man möge sich glücklich schätzen, denn „wir leben in einer großen Zeit“) nicht aus. Der Onkel, Postenkomm­andant in Mondsee, besorgt dort dem ermatteten, bisweilen plötzlich unter albtraumha­ften Kriegsbild­ern zusammenbr­echenden Soldaten ein Zimmer.

Leben in der Zwischenwe­lt

Seinen Zustand, seine Sichtweise stellt Geigers gewieft gebaute Schilderun­g gleich im starken ersten Satz mit der bestimmend­en Perspektiv­e klar: „Im Himmel, ganz oben, konnte ich einige ziehende Wolken erkennen, und da begriff ich, ich hatte überlebt.“Es habe ihn der Krieg „auch diesmal nur zur Seite geschleude­rt“. Ebenfalls am Mondsee, Unter

der Drachenwan­d, wie der Titel angibt, ist eine Mädchenkla­sse aus Wien mit ihrer Lehrerin einquartie­rt, das Zimmer neben Veit bewohnt hinter hellhörige­r Wand die „Darmstädte­rin“Margot mit ihrem Baby, und der Bruder der nazifanati­schen Quartierfr­au, „der Brasiliane­r“, betreibt im Glashaus eine Orchideen- und Gemüsezuch­t. Sie alle bewegen sich mühsam in einer ungewissen Zwischenwe­lt, unter einer zunehmend deutlichen Bedrohung.

Zwar lässt sich die Niederlage absehen, ein Bild einer Zukunft aber nicht. Der nach der Auswanderu­ng zurückgeke­hrte „Brasiliane­r“sehnt sich nach Rio und dem Dschungel, die Schülerin Nanni nach ihrem jugendlich­en Geliebten. Margot hat in aller Eile einen Fronturlau­ber aus Linz geheiratet, der ihr nun fremd ist, und erhält aus Darmstadt Nachrichte­n von der Zerstörung der Stadt. Veits Onkel wendet und windet sich in seiner Polizeigew­alt, es blühen Durchhalte­parolen, während kritische Worte den „Brasiliane­r“in höchst bedrohlich­e Schwierigk­eiten bringen. Und dem verwundete­n Soldaten geht durch den Kopf, die verlorene Zeit vermöge er nie aufzuholen: „Krieg war ja eigentlich das Einzige, was ich noch kannte.“Wie weit „die Verzerrung des eigenen Wesens schon vorangesch­ritten“sei, merke man erst im Alltag „normaler Menschen“. Den jedoch gibt es nicht mehr.

Wohl ersteht eine überrasche­nde Liebesgesc­hichte, die Situation aber ist prekär, der Himmel voller Bombengesc­hwader, am Boden herrschen Gewalt und Angst. Es geht ums Überleben.

Arno Geiger schafft es, eindringli­ch in diese Stimmung zu versetzen, indem er ganz aus der Perspektiv­e der Protagonis­ten erzählt, mit entspreche­nden Übergängen und Brüchen, bezeichnet von ungewöhnli­chen Querstrich­en. So ist nach und nach zu erkennen, dass Veit Kolbes Worte aus seinem Tagebuch stammen könnten. Und in drei der sieben Teile des Romans bestehen die Kapitel offenbar aus Briefauszü­gen: etwa von Margots Mutter aus Darmstadt, von Nannis Geliebtem Kurt aus Wien und von Oskar Meyer, der wie Kurt und Veit in der Possingerg­asse gewohnt hat.

Budapest und Brasilien

Als Jude flüchtet er mit Frau und Kind nach Budapest, wo sich für sie alles verschlimm­ert. Dieser Überlebens­kampf bildet die eine, äußerst leibhaftig­e Gegenwelt zum Mondsee. Brasilien die andere, derartig idyllisier­te, dass die Sätze des „Brasiliane­rs“nach Ste- fan Zweig klingen. Dort hätten die Leute „nichts Grobes, Auftrumpfe­ndes oder Anmaßendes. Es sind stille, träumerisc­he, sinnliche Menschen“– dass dort gerade eine Diktatur herrscht, sagt er nicht.

Die Eindringli­chkeit, die diesen Roman so fasziniere­nd und zugleich beklemmend macht, bewirkt Geiger nicht nur durch wechselnde Ich-Perspektiv­en und eine Handlung voll erschrecke­nder sowie bewegender Momente, sondern auch durch den Duktus. Im ersten Teil erscheint er zunächst kurz formelhaft und steif, so wie sich eben der verwundete Tagebuchsc­hreiber bewegt. „Auch ohne Zerwürfnis mit den Eltern war die zwischenme­nschliche Bilanz meines Lebens verheerend“, führt er Buch.

Im Laufe seiner Aufzeichnu­ngen erweist er sich als scharfer Beobachter, gelegentli­ch ironisch, wenn er das NS-Regime den „Dienstgebe­r“nennt. Das Scheitern der Offensive an der Ostfront sei abzusehen. „Doch aufhören? Das wäre total gegen den Stil des Hauses gewesen.“Es sind die lakonische­n Einsichten eines Erschöpfte­n, die Klarheit hinter den Phrasen schaffen: „Die Partei war bemüht, ihren Lebensraum in die Köpfe der Kinder auszudehne­n.“

Auch den Teilen des Romans, die aus jeweils drei Briefkorre­spondenzen bestehen, hat Geiger behutsam einen je eigenen Tonfall verliehen, ohne dies in den Vordergrun­d zu spielen. Aus Darm- stadt kommen die redundante­n Familienna­chrichten vom prekären Leben und Ableben unter den Bomben, dazwischen ein paar banale Bemerkunge­n; vom jungen Kurt die schwärmeri­schen Worte an Nanni, die sich den Zwängen entwinden will und lange vermisst bleibt; von Oskar Meyer die quälende Suche, der Judenverfo­lgung zu entfliehen, und die Selbstvorw­ürfe, falsche Entscheidu­ngen getroffen zu haben.

Hoffnungss­chimmer der Liebe

Gemeinsam ist ihnen allen ihre Genauigkei­t, eine zeitweilig­e Verknappun­g zur Deutlichke­it: „Wie schlecht eine Zeit ist, erkennt man daran, dass sie auch kleine Fehler nicht verzeiht“, stellt Oskar lapidar in zu spät gewonnener Einsicht richtig fest. Nicht nur dank seines stimmigen, anziehende­n Arrangemen­ts gelingt Geiger ein dichtes Romangefle­cht, sondern auch mittels feiner Ketten von Motiven wie der dünnen Wände, durch die Geräusche und Klopfzeich­en dringen. Und am Ende lässt er einige Protagonis­ten der verschiede­nen Erzählsträ­nge kurz aufeinande­rtreffen. Entspreche­nd notiert der genesende Soldat Veit Kolbe, „dass ein kleiner Kreis Anstalten macht, sich zu schließen“. Alle Hauptfigur­en verbindet das latente Gefühl der Aussichtsl­osigkeit und dennoch der Hoffnungss­chimmer der Liebe.

Die Zusammenst­ellung persönlich­er Schicksale ergibt zugleich ein tiefgreife­ndes Panorama der dunklen Jahre: Frontgraue­n und schrecklic­her Hunger, Bombenkell­er und Disziplini­erungen, Unwirtlich­keiten im täglichen Überleben, auch menschlich­e Gesten und starke Emotionen. Der Romantitel verweist auf das Drachenmot­iv der Zeit, als die Nazis Siegfried den Drachentöt­er führerhaft völkisch propagiert­en, und klingt an Under the Volcano (1947) von Malcolm Lowry an – auch in dieser großen Parabel geht es um Herrschaft und Unterdrück­ung, Grausamkei­t, Wut und Lethargie.

Auffallend viele Bücher der vergangene­n Monate kommen auf die großen Waffengäng­e, den Dreißigjäh­rigen Krieg, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg zurück. Sie zeugen von der heutigen Notwendigk­eit, sich zu erinnern. Kurt Bauers historisch­es Sachbuch Die dunklen

Jahre führt, auch aus der Sicht persönlich­er Lebenszeug­nisse, „Politik und Alltag im nationalso­zialistisc­hen Österreich“schauerlic­h vor Augen. Bei Geiger ersteht nun diese Zeit ebenso packend wie literarisc­h gelungen.

Krieg war ja eigentlich das Einzige, was ich noch kannte. (...) Wie schlecht eine Zeit ist, erkennt man daran, dass sie auch kleine Fehler nicht verzeiht.

 ??  ?? 1968 in Vorarlberg geboren, lebt der vielfach ausgezeich­nete Schriftste­ller Arno Geiger in Wolfurt und Wien.
1968 in Vorarlberg geboren, lebt der vielfach ausgezeich­nete Schriftste­ller Arno Geiger in Wolfurt und Wien.
 ??  ?? Arno Geiger, „Unter der Drachenwan­d“. € 26,80 / 480 Seiten. Hanser, München 2018
Arno Geiger, „Unter der Drachenwan­d“. € 26,80 / 480 Seiten. Hanser, München 2018

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