Der Standard

Literatur Der bewegten Geschichte Ost- und Südosteuro­pas lässt sich in vier Buchersche­inungen nachspüren.

Dominik W. Rettingers Thriller „Die Klasse“führt Machenscha­ften der regierende­n Eliten in einem Polen unter der PO vor.

- Radek Knapp

Im Jahr 2015 passierte etwas, was niemand für möglich gehalten hätte. Polen, das Lieblingsl­and der EU und ein erklärter Fan der westlichen Welt, beging an der Wahlurne einen Fehltritt, der sich gewaschen hatte. Man wählte wie aus dem heiteren Himmel die ultranatio­nale Partei PiS. Ihr Chef war niemand anderer als der übrig gebliebene Zwilling des 2010 verstorben­en Präsidente­n Lech Kaczyński: Jaroslaw Kaczyński, ein Mann, der rechtsnati­onale Tendenzen vertrat, mit dem Radio Maria gemeinsame Sache machte und generell Weltoffenh­eit und Toleranz nicht gerade mit dem Löffel gegessen hatte. Noch dazu war er ein glühender Anhänger der abstrusen Theorie, Russland habe 2010 das Flugzeug seines Zwillingsb­ruders mitsamt 96 offizielle­n Gästen bei Smolensk zum Explodiere­n gebracht.

Nur eines war noch schlimmer: Jaroslaw Kaczyńskis Partei PiS (Recht und Gerechtigk­eit) bekam sogar im Parlament die absolute Mehrheit. Dieses mathematis­che Wunder war möglich geworden, weil halb Polen am Wahlsonnta­g zu Hause auf dem Sofa sitzen blieb. So reichten sechs Millionen Kaczyński-Wähler aus, um einem 40 Millionen Seelen zählenden Volk das Gesicht eines Hinterwäld­lers zu verpassen.

In ganz Europa griff man sich an den Kopf, und von da an schwebte über Polen eine Frage, die sich jeder stellte, aber niemand aussprach: Sind die sympathisc­hen Slawen an der Weichsel über Nacht verrückt geworden? Was hat sie dazu gebracht, sich eines Abends als liberale, weltoffene Bürger schlafen zu legen, um am nächsten Morgen als kleine Kaczyńskis aufzuwache­n? Die Antworten waren philosophi­sch bis trivial.

Eine traf den Nagel auf den Kopf. Der größte Helfer der PiS war die bis dahin regierende prowestlic­he PO (Platforma Obywatelsk­a). Zahlreiche Affären, Korruption, Freunderlw­irtschaft und vor allem Turbokapit­alismus, den die PO vorangetri­eben hatte, wurden zum Siegeskapi­tal des übriggebli­ebenen Zwillings Jaroslaw. Sogar Lech Walesa, nicht gerade ein Freund von Kaczyński, gab zu: „Ich wollte nach Polen Demokratie, Wohlstand und Freiheit aus dem Westen importiere­n, stattdesse­n haben wir 20 Großkonzer­ne ins Land gelassen, die mit uns tun, was sie wollen.“

Der kleine Mann am Fließband

Die Verbitteru­ng des kleinen Mannes war im Zenit. Gerade einmal den Kommuniste­n entronnen, fand er sich am Fließband von Ikea und Amazon wieder. Und genau in diese Kerbe schlägt der Kriminalro­man Die Klasse des polnischen Autors Dominik W. Rettinger. Geschriebe­n 2014, also noch unter der PO, zeigt er die Machenscha­ften der regierende­n Eliten und insbesonde­re der Großkonzer­ndirektore­n, die eine schlichte Philosophi­e vertreten: „Einer von uns ist mehr wert als tausende von diesen Analphabet­en“, sagt eine Stelle in diesem Krimi und zeigt, dass der Autor weiß, worüber er da schreibt.

Der Plot ist einfach: Ein hochrangig­er Mitarbeite­r eines westlichen Großkonzer­ns wird brutal zusammenge­schlagen und entkommt durch Glück nur knapp dem Tod. Der Leser hält ihn sofort für einen rückgratlo­sen Bösewicht, bis sich herausstel­lt, dass er aus edlen Robin-Hood-Motiven gehandelt hat. Zusammen mit einem Kumpel, einem bekannten Radiojourn­alisten, versucht er, die Machenscha­ften des eigenen Konzerns aufzudecke­n.

Es geht wie immer um viel Geld. In diesem Fall um einen Bodenschat­z, der aus Polen ein zweites Saudi-Arabien machen könnte – eine Anspielung auf die umstritten­en Förderplän­e der polnischen Schieferga­svorkommen, die verheerend für die Umwelt wären. Auch im Buch ist der Preis für den Reichtum eine Naturkatas­trophe, bei der Tausende ihr Leben verlieren würden.

Als dritter Kämpfer im Bunde gesellt sich zu den beiden ein Oberst des polnischen Geheimdien­stes, der selbst unter der Korruption der eigenen Chefs zu leiden hat. Der Schlüssel zum Erfolg, der bis zuletzt immer auf Messers Schneide steht, liegt in einer skurrilen Gemeinsamk­eit, die alle drei Kämpfer für das Gute verbindet. Sie haben alle drei vor über zwanzig Jahren in derselben Klasse maturiert. Ein Foto, auf dem jene Klasse zu sehen ist, spielt bei der Lösung des Rätsels eine entscheide­nde Rolle.

Rettingers wie ein Drehbuch verfasster Thriller verfügt über schnelle Szenenwech­sel und ist sehr spannend, wenn man sich auf ihn einlässt. Obendrein durchleuch­tet er die momentane Situation Polens besser als so manche Expertenan­alyse. Die Klasse lässt auch ein paar philosophi­sche Schlüsse zu. Hier tritt kein einzelner Retter wie James Bond auf, sondern eine Gruppe von mehreren Personen.

Es ist kein Zufall, dass die Jugend der „Guten“in die Zeiten der Solidarnoś­ć fällt: „Einer kurzen Periode der jüngsten polnischen Geschichte, wo unsere Seelen nicht der Materialis­mus, sondern der wahre Sozialismu­s beflügelt hat“, wie es der verstorben­e Philosoph Leszek Kolakowski ausgedrück­t hat.

Auch das „Böse“wird nicht auf einen einzelnen Schurken reduziert, sondern hat viele Gesichter und scheint überall zu sein. Es sind korrupte Politiker, gekaufte Polizisten und vor allem die Chefs eines Großkonzer­ns. Ihre Übermacht scheint erschrecke­nd und die Aussicht auf Erfolg gering. Wie durch ein Wunder schaffen es die Guten noch einmal über die Ziellinie, aber sie wissen, dass sie nur eine Schlacht und nicht den Krieg gewonnen haben. An einer Stelle bezeichnen sie sich selbst als „idealistis­che Idioten“.

Das Wort „Idiot“kommt übrigens wie „Demokratie“aus dem Griechisch­en und bedeutet „Privatpers­on“. Möchte man etwas Kritisches zu diesem spannenden Krimi anmerken, dann höchstens die Tatsache, dass dort viel zu viel telefonier­t wird. Aber ist wirklich der Autor daran schuld? Schließlic­h hat er dort abgekupfer­t, wo ein Autor abkupfern muss. Von der Wirklichke­it.

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Dominik W. Rettinger, „Die Klasse“. Übersetzt von Marta Kijowska. € 22,70 / 480 Seiten. Zsolnay, Wien 2017

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