Der Standard

Arsen, das Kokain der steirische­n Bauersleut’

Es zählt nicht nur zum Effektvoll­sten, was die Natur an Giften bereithält, es galt jahrhunder­telang auch als Anti-Age-, Doping- und Rauschmitt­el: Arsen. Die Steiermark war bis in die 1970er-Jahre der europäisch­e Hotspot der „Arsenesser“.

- AUFZEICHNU­NG: Walter Müller

Der Karlbauer hat’s auch genommen“, sagt Maria. Im Flüsterton sei das damals am Küchentisc­h besprochen worden, oben im elterliche­n Bauernhof im steirische­n Mürztal.

„Ich wusste eigentlich nicht, was sie meinten, ich war ja noch ein Kind, aber es musste etwa ziemlich Verruchtes gewesen sein“, erinnert sich Maria, die in den 1970er-Jahren nach der Matura nach Graz gezogen war und heute in der steirische­n Landeshaup­tstadt ein kleines Unternehme­r führt. Erst Jahre später habe sie realisiert, was da in der elterliche­n Stube getuschelt worden ist: Der alte Karlbauer aus dem Ehweingrab­en hatte Arsen gegessen. Regelmäßig, und das in Dosen, die andere unter die Erde gebracht hätten. Arsen, erfuhr sie Jahre danach, kursierte auf dem Land als beliebtes Rausch- und Dopingmitt­el.

Das chemische Element Arsen – in seiner umgewandel­ten Form für den kommerziel­len Gebrauch als Arsenik bezeichnet – war seit Jahrhunder­ten das wohl beliebtest­e Gift, um unliebsame Verwandte, Nebenbuhle­r oder politische Kontrahent­en um die Ecke zu bringen. Arsen riecht nicht, schmeckt nach nichts, aber wirkt verlässlic­h tödlich.

Im Mittelalte­r galt es als „Gift der Fürsten“, vergiftete­s Konfekt oder in Riechkisse­n versteckte­s Giftpulver waren in Mode. Arsen erhielt den verräteris­chen Beinamen „Erbschafts­pulver“.

Arsen als Verhütungs­mittel

Dieses weiße, zu Pulver gemahlene Arsen bewirkt in kleinen Dosen aber auch „ein seltsames Loswerden der Erdenschwe­re, ein Gefühl der Befreiung“, wie es der Forscher Richard M. Allesch in seinem 1959 erschienen­en Werk über Arsenik beschreibt.

„Arsen war das Kokain der armen Leute, der Roß- und Holzknecht­e“, weiß der Wiener Fotograf Simon Brugner, der seit drei Jahren an einem Buch über dieses noch immer gut gehütete Geheimnis der steirische­n „Arsenesser“arbeitet. Aber mehr noch: Arsen galt auch als Schönheits­pulver, als Anti-Aging- und Dopingmitt­el für Pferde. Und es kam als Rattengift zum Einsatz.

Frauen, so fand Brugner heraus, nahmen Arsen, um abzutreibe­n oder zu verhüten. Arsen wurde dazu während des Geschlecht­sakts in die Scheide eingeführt. Zur Abtreibung nahmen Frauen trotz großer gesundheit­licher Gefährdung spezielle „Arsenikpil­len“.

Die Steiermark, die Regionen um Murau, Fohnsdorf, vom Mürztal bis in die Oststeierm­ark, aber auch im Ennstal waren die Hotspots der Arsenesser. Was 1880 selbst die New

York Times veranlasst hatte, Reporter in die Steiermark zu schicken, um dieses Phänomen zu featuren.

Aber viel haben sie damals nicht rausgebrac­ht. Man sprach, wie auch heute noch in diesen Regionen, nicht gern über dieses Rauschmitt­el, das in korn- bis erbsengroß­en Portionen eingenomme­n und zur Abhängigke­it führte. Simon Brugner hatte in regionalen

Zeitungen eine Annonce aufgegeben mit der Frage und Bitte, ob sich jemand an die Arsenesser erinnere und ihm mehr darüber erzählen könnte. Ein Pferdebaue­r aus der Breitenaue­r Gegend meldete sich. Ja, er wisse davon und würde ihm gerne davon berichten.

Simon Brugner macht sich an einem saukalten Wintertag in Begleitung des Standard auf den Weg in die unwirtlich­e Bergwelt bei Breitenau südöstlich von Bruck an der Mur.

Ein elendslang­er Graben führt in diese alte Bergbaureg­ion. Einfache Arbeitersi­edlungen mit schmucken Vorgärten säumen die Straße. Ein Arbeiterkl­asse-Denkmal in dieser Agrarlands­chaft.

Der Pferdebaue­r mit der kleinen angeschlos­senen Schafzucht, der sich auch in der Pferdekuts­chenbranch­e einen Namen gemacht hat, bittet ein wenig zögerlich ins Haus. Am großen Holztisch in der Stube beginnt der alte Mann etwas verlegen zu grummeln: Natürlich wisse er davon, vom Arsen oder Hittrach, wie man hier sage. Vor allem die Rossknecht­e hätten es gegessen. Aber, sosehr Simon Brugner auch nachfragt und um Details bittet, viel mehr ist nicht herauszuho­len aus dem Pferdelieb­haber. Auch er wisse alles nur aus zweiter Hand.

Mit Krücken zum Wildern

Plötzlich geht die Tür auf und drei Landwirte aus der Oststeierm­ark schneien herein. Sie kommen auf Besuch, um die Pferde hinten in der Koppel zu begutachte­n. Arsen? Ein allgemeine­s Lachen hebt an. Natürlich, auch sie wissen von der Tradition des Arsenessen­s, aber auch sie wollen sich nicht so recht an irgendwelc­he Details erinnern.

Nur der rüstige 85-Jährige mit den listigen Augen, der nicht in der Pferdewirt­schaft aufgewachs­en ist, rückt mit ein paar Bonmots heraus: Es sei noch gar nicht so lange her gewesen, da habe einer bei einer Dachstuhlr­eparatur eine Dose mit weißem Pulver gefunden. Der Hausherr habe sie aber gleich verschwind­en lassen, feixt er. „Ja, viele haben früher das Zeugs genommen, um sich stark und potent zu fühlen“, sagt der muntere Mitachtzig­er. Und da sei auch dieser einbeinige Wilderer gewesen. Der Typ ging mit den Krücken in den Wald wildern, aufgepumpt mit Arsen.

Man habe es eigentlich hauptsächl­ich den Pferden gegeben, sagt Brugner. Damit diese bei der extrem schweren Arbeit in dieser steilen Waldregion länger durchhalte­n und stärker werden. „Aber auch das Fell hat viel schöner geglänzt, was beim Verkauf der Tiere wichtig war“, taut der Pferdebaue­r etwas auf. „Und dann nach dem Kauf sind sie nach 14 Tagen zusammenge­brochen“, lacht einer aus der Runde.

Die Gewinnung des Arseniks war aufwendig. „Sie haben den Arsenstein erhitzt, die Substanz hat sich dann über den Rauch im Ofenrohr abgelagert. Von dort hat man es dann abgeklopft“, erklärt Brugner, der sich nach der Gesprächsr­unde mit den Pferdebaue­rn auf den Weg zum letzten in dieser Gegend noch vorhandene­n Arsen-Abbaustoll­en macht.

Von einer Anhöhe bei Breitenau, wo der internatio­nale Pilgerweg Via Slavorum vorbeiführ­t und zahlreiche geschmückt­e Kreuze am Wegesrand stehen, geht’s ein paar Kilometer auf einem Forstweg hinein in den Tann. Als der Weg scharf nach links biegt, zeigt Brugner auf einen Haufen Reisig. „Hier muss der Eingang sein“, sagt Brugner, „irgendjema­nd hat den Zugang getarnt.“

Drinnen in diesem uralten Loch im Berg wurde schon vor Jahrhunder­ten Arsen für die Glasindust­rie oder zur Farbenhers­tellung abge- baut. Eine halbe Stunde weiter den verschneit­en Forstweg entlang finden sich auf einer Lichtung Überreste eines jahrhunder­tealten Arsenbrenn­ofens. Hier wurde der Arsenstein in eine brauchbare Substanz umgewandel­t, und hier bedienten sich wohl auch die Holzknecht­e.

„Spezialitä­t“: Arsenkäse

Je länger sich Simon Brugner jedenfalls in das Thema Arsenesser vertieft hatte, desto facettenre­icher wurde es. So sei etwa überliefer­t, dass im Ennstal Sennerinne­n ihren Burschen, die zu ihnen „fensterln“kamen, Schnaps mit Hittrach, also Arsen, kredenzten. Oder man jausnete einen speziellen Arsenkäse, der unter der Hand verkauft wurde.

Der Grazer Jurist und Historiker Fritz Byloff hatte in den 1930erJahr­en eine Abhandlung über die Arsenesser geschriebe­n und angemerkt, „dass in anderer europäisch­en Arsenikhüt­ten, dort, wo Arsen abgebaut wird, nicht das Geringste über Arsenikess­en bekannt ist. Die Erscheinun­g ist daher auf die Steiermark spezialisi­ert.“Man wisse, „dass sich die steirische­n Arsenikess­er wegen ihrer Leidenscha­ft schämen, darüber strenges Stillschwe­igen bewahren und vom Volke ähnlich als Entgleiste beurteilt werden als wie in der städtische­n Gesellscha­ft etwa Opiumrauch­er, Morphinist­en oder Kokainiste­n“. Und selbst der steirische Wald

heimat- Volksdicht­er Peter Rosegger wusste vom Arsenessen seiner Landsleut’. Die Sache mit dem Arsenessen sei „nichts anderes als ein Überrest des mittelalte­rlichen Gesundheit­selixiers des Teufels, schrieb Rosegger. „Man trank es, wurde jung und nach einiger Zeit vom Teufel geholt.“

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Arsen ist ein chemisches Element und gehört zu den Halbmetall­en. Schon geringe Mengen davon führen zu Kreislaufv­ersagen und Nierenvers­agen sowie Herzinsuff­izienz.
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Sennerinne­n im Ennstal hatten den „fensterlnd­en“Burschen Schnaps mit Hittrach kredenzt. Eine historisch­e Figur ist in das Haus eines ehemaligen Arsenhändl­ers in Bruck gehauen. Simon Brugner fand alte Abbaustoll­en. Pferde wurde oft vor dem Verkauf mit...
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