Damoklesschwert über Chinas Mittelklasse
Nach Staatsbetrieben und Lokalregierungen sind auch Private zunehmend verschuldet
Online-Bestellungen in Milliardenhöhe gingen in virtueller Windeseile ein. Die erste digitale Milliarde war innerhalb von zwei Minuten verbucht, als um Mitternacht auf den vergangenen 11. November in China der größte Discount-Shopping-Tag der Welt startete.
Internetgigant Jack Ma vom E-Kommerzkaufhaus Alibaba hatte 2009 die jährliche Ausverkaufsbonanza erfunden. 2017 stellte er einen neuen Rekord auf – mit einem Tagesumsatz von 25,4 Milliarden US-Dollar (21,1 Milliarden Euro). Es waren 40 Prozent mehr als im Jahr davor.
Für die Consultingexperten von McKinsey bewies dieser jüngste Kaufrausch die wirtschaftliche Stärke und Zuversicht chinesischer Konsumenten. Schon in ihrer 2013 veröffentlichten Studie, die sie die „Vermessung der chinesischen Mittelklasse“nannte, hatten die McKinsey-Experten der neuen Konsumklasse einen dynamischen Aufstieg prophezeit. Bis 2022 würden ihr mehr als 75 Prozent der Stadtbewohner Chinas angehören. Ein Kennzeichen der dann mindestens 700 Millionen „konsumkräftigen Bürger in China“sei, dass sie ein verfügbares Jahreseinkommen in Höhe von 60.000 Yuan bis 229.000 Yuan (9000 bis 34.000 Dollar) verbrauchen könnten.
Freizeit und Familienvergnügen stehen auf der Präferenzliste weit oben. Nach Disneyland ist für Kinder der einkommensstarken Haushalte nun Legoland angesagt, das in Schanghai gebaut wird. Starbucks-Cafés sind seit Jahren Treffpunkte der Mittelschicht. Starbucks sei „von der Zukunft der kaffeetrinkenden Mittelklasse so überzeugt“, dass es sich für 2021 5000 Filialen zum Ziel setzt, schrieb das Pekinger Magazin Caixin. Alle 15 Stunden öffne ein neuer Starbucks in China.
Auch Chinas Kommunistische Partei setzt auf den Appetit der von ihr einst misstrauisch beäugten Mittelklasse. Sie braucht sie, um ihr politisches Ziel, 2021 den Eintritt der Volksrepublik in eine „Gesellschaft des mittleren Wohlstands“ausrufen zu können.
Doch wie groß und nachhaltig ist Chinas Mittelschicht wirklich? Die meisten Wirtschaftsforscher gehen von bisher rund 300 Millionen „Konsumbürgern“in China aus. Im Anfang Jänner erschienenen Sozialblaubuch zur „Gesellschaftlichen Entwicklung 2018“schreibt der führende Soziologe des Landes, Li Peilin, Vizedirektor der Akademie für Sozialwissenschaften, dass sich China zu einer „Dienstleistungs- und Konsumgroßmacht“wandelt.
Debatte über Verschuldung
Li nennt auch neue Zahlen dazu: „In den kommenden zehn Jahren werden bis zu 500 Millionen Menschen zu den Schichten mit mittlerem Einkommen gehören. China werde so zum gigantischen Konsummarkt in der Welt.“
Darauf hoffen viele im In- und Ausland. Doch ebenso wie die Bevölkerung nach drei Jahrzehnten erzwungener Einkindfamilie vor der Gefahr steht, „schneller alt als reich“zu werden, droht auch der neuen Mittelklasse die finanzielle Puste auszugehen.
Chinas private Haushalte haben sich finanziell übernommen. Die Debatte darüber hat begonnen. „Verschuldung der Haushalte“steht auf dem Titelbild des Dezemberhefts der finanzpolitischen Caijing. Es zeigt ein „graues Nashorn“, tierisches Symbol für eine latente Gefahr, die groß genug ist, dass alle sie sehen können, und die dennoch unterschätzt wird.