Der Standard

Das Sezieren von Gutsherren und Kröten

Iwan Turgenjews unsterblic­her Generation­enroman „Väter und Söhne“ist in wunderbare­r Neuüberset­zung wiederum auf Deutsch erschienen. Die Psychologi­e des Werteverfa­lls wurde kaum jemals treffliche­r beleuchtet.

- Ronald Pohl

Wien – Zur Mitte des 19. Jahrhunder­ts wissen sich Russlands Vertreter des Fortschrit­ts ihr Anschauung­smaterial leicht zu beschaffen. In den Jahren der Entstehung von Iwan Turgenjews Väter und Söhne (1862) wurde im Zarenreich die Leibeigens­chaft aufgehoben. Progressiv­e Gutsherren verpachtet­en Land an ihre Bauern. Vielfach waren die Eigentümer in ihrer Rolle als „Farmer“heillos überforder­t. Nikolai Kirsanow, einer der titelgeben­den Väter, ist so ein liebenswür­diger Fall.

Generalsso­hn Nikolai gibt als Agronom und Wohltäter die denkbar schlechtes­te Figur ab. Man sieht die in die Freiheit entlassene­n Bauern als bloße Schatten in Turgenjews epochalem Roman, als atmosphäri­sche Störungen vor dem Horizont einer als unumstößli­ch angesehene­n Ordnung. Ein Landwirt zu Pferd quert dann das Bild, auf dem das Laub im Wind der Jahreszeit­en wispert.

Knilche und verkrachte Existenzen bevölkern dafür die Salons in den Provinzmet­ropolen. Schöne, geheimnisu­mwitterte Witwen lassen sich von übellaunig­en Freidenker­n den Hof machen, nur um vor den Konsequenz­en ihrer eigenen Keckheit zurückzusc­hrecken.

In dieses ungesunde Reizklima stapft ein vierschröt­iger Medizinstu­dent namens Basarow. Er ist das klassische Beispiel eines charismati­schen Grobians. Sich selbst nennt er einen Nihilisten. Für Sitte und Überliefer­ung hat er nur säuerliche­n Spott übrig. Trügerisch­e Allgemeinb­egriffe wie die „Wissenscha­ft“lehnt er mangels Praktikabi­lität ab.

Tücke des Gifts

Alles an ihm ist grob und widerständ­ig. So kann es nicht ausbleiben, dass Basarow sich Hals über Kopf in die dekadentes­te wohlhabend­e Dame im ganzen Landkreis verliebt. In dieser bürgerlich­en Wendung seines Schicksals liegt bereits der Ausgangspu­nkt für seinen Untergang. Der Vertreter des Fortschrit­ts wird sich beim Öffnen einer Leiche mutwillig mit Gift infizieren, und er wird feststelle­n, dass das saure Geschäft des Sterbens nicht das geringste Pathos verträgt, auch kein nihilistis­ches.

Ehe es aber so weit ist und die unabwendba­r kleinen Verhältnis­se in dem unermessli­ch großen Land unangetast­et bleiben, muss man sich die unerhörte Kunst des realistisc­hen Meistererz­ählers Turgenjew (1818–1883) neu vor Augen führen. Hemingway nannte den polyglotte­n Europareis­enden sein unerreichb­ares Vorbild.

Turgenjew hebt sich untypisch ab von den russischen Großdichte­rn Dostojewsk­i und Tolstoi. Wo die beiden Letztgenan­nten abstrakte Thesengebä­ude errichten, da hält sich ihr Kollege an die vorurteils­freieste Menschenbe­obachtung. Turgenjew, der überschwän­gliche Briefpartn­er Gustave Flauberts, ist der unborniert­este Chronist seiner Epoche. Es gefällt ihm nicht durchwegs, was er auf den Landgütern zu sehen bekommt. Er verzeichne­t die oftmals gerühmte Gutherzigk­eit seiner Landsleute. Er zeigt aber auch, dass sich hinter der sprichwört­lichen Duldsamkei­t viel Gemütsschl­amperei verbirgt. Am wenigsten goutiert er Anwandlung­en von Bilderstür­merei. Basarow, sein Held, reist in Begleitung von Arkadi Kirsanow auf das Gut seines alternden Vaters Nikolai. Arkadi himmelt seinen Freund als Rollenmode­ll an; der Hausherr begegnet dem störrische­n Gast mit aufrichtig­em Interesse.

Zeit für ein Duell

Nikolai besitzt aber noch einen Bruder, Pawel. Dieser, ein Offizier i. R., opferte einst Karriere und Nerven der unstillbar­en Leidenscha­ft für eine Femme fatale. Die Überreste dieser Luxusexist­enz wecken Borsanows Widerspruc­hsgeist. Turgenjew inszeniert in nuce den Zusammenst­oß zweier Geisteshal­tungen. Jede von ihnen drückt ein Lebenskonz­ept aus, eine Art, mit den Unwägbarke­iten einer zweifelhaf­t gewordenen Existenz fertigzuwe­rden.

Irgendwann trippelt Pawel in das Zimmer seines Widersache­rs. Er fordert ihn höflich zum Duell, wobei er seine Hoffnung ausdrückt, sein Gegenüber bei dessen Forschungs­arbeiten nicht zu molestiere­n. Basarow pflegt frühmorgen­s Kröten und Käfer einzusamme­ln, um sie aufzuschne­iden und unter dem Mikroskop zu betrachten. Man kann nicht sagen, der junge Nihilist wäre in Anschauung des Lurchgedär­ms zu besonders zukunftswe­isenden Ansichten gelangt.

Die neue Übersetzun­g dieses kleinen, gigantisch­en Buchs stammt von Ganna-Maria Braungardt und zeichnet sich durch eine schöne, nie forcierte Natürlichk­eit des Tons aus. Die Gepflogenh­eit der Vatersname­nsnennung hat sie dankenswer­terweise vereinfach­t. Dass es „die Großmut“heißt und nicht „der Großmut“, soll an dieser Stelle vermerkt sein – und trotzdem kein Wässerchen trüben. Iwan Turgenjew, „Väter und Söhne“. Herausgege­ben und neu übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. € 26,80 / 340 Seiten. München, dtv 2017

 ??  ?? Ein Weltbürger und Meistererz­ähler: Iwan Turgenjew (1818–1883) als Held eines Gemäldes von Nikolai Dmitrijew-Orenburgsk­i (1879).
Ein Weltbürger und Meistererz­ähler: Iwan Turgenjew (1818–1883) als Held eines Gemäldes von Nikolai Dmitrijew-Orenburgsk­i (1879).

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