Der Standard

Etwa 61.000 Menschen wurden im vergangene­n Jahr in Brasilien ermordet und damit so viel wie noch nie. Experten warnen vor einer weiteren Eskalation der Gewalt. Die Politik reagiert ratlos.

- Susann Kreutzmann aus São Paulo

Das neue Jahr begann in Brasiliens nordöstlic­hem Bundesstaa­t Rio Grande do Norte so, wie das alte geendet hat: mit Gewaltexze­ssen und steigenden Mordraten. Seit Mitte Dezember streikt die Polizei wegen ausbleiben­der Lohnzahlun­gen. Chaos auf den Straßen, geplündert­e Geschäfte und ein Hochschnel­len der Gewalt sind die Folge. Die Mordrate stieg in den letzten beiden Dezemberwo­chen im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum um 51 Prozent: Mehr als 100 Menschen wurden umgebracht. Die Regionalre­gierung musste den Ausnahmezu­stand ausrufen und das Militär zu Hilfe holen. Jetzt patrouilli­eren zwar schwer bewaffnete Soldaten durch die Hauptstadt Natal, doch Sicherheit herrscht keine. Die einst bei Touristen beliebte Metropole ist zur gefährlich­sten Stadt Brasiliens geworden.

Die Stimmung ist im ganzen Land explosiv. Seit einigen Jahren steigen die Mordraten kontinuier­lich an. Mehr als 61.000 Menschen wurden im vergangene­n Jahr umgebracht, so eine Schätzung des auf öffentlich­e Sicher- heit spezialisi­erten Forschungs­institutes Fórum Brasileiro de Segurança Pública (FBSP). Damit stellt das Land einen neuen Negativrek­ord auf. Rein rechnerisc­h werden sieben Menschen pro Stunde umgebracht. Brasilien repräsenti­ere 2,8 Prozent der Weltbevölk­erung, gleichzeit­ig geschehen hier aber 13 Prozent aller Morde, erklärt der Präsident des FBSP, Renato Sérgio de Lima.

Fünfjährig­er erschossen

Bereits in der Silvestern­acht wurde ein fünfjährig­er Junge in São Paulo durch eine verirrte Kugel am Kopf getroffen. Die Eltern brachten den Jungen noch in ein öffentlich­es Spital, doch es gab keinen OP-Platz. Fünf Stunden telefonier­ten sie mit weiteren Krankenhäu­sern, um ihr Kind versorgen zu lassen. Am Abend erlag der Fünfjährig­e seinen Verletzung­en.

Im Bundesstaa­t Goiás kam es zum Jahreswech­sel zu einer Gefängnisr­evolte zwischen rivalisie- renden Gangs. Neun Häftlinge starben. Rund 250 Insassen nutzten das Chaos zum Ausbruch, etwa 100 von ihnen sollen noch immer frei sein. Auch in anderen Haftanstal­ten kam es zu Revolten und Geiselnahm­en. Seit einem Jahr nehmen die brutalen Revierkämp­fe zwischen den größten Mafiaorgan­isationen Erstes Hauptstadt­kommando (PCC) aus São Paulo und dem Comado Vermelho (Rotes Kommando, CV) aus Rio de Janeiro zu.

Hinzu kommen die menschenun­würdigen Haftbeding­ungen: Rund 711.000 Gefangene gibt es in Brasilien, aber nur rund 354.000 Plätze in größtentei­ls maroden alten Haftanstal­ten. Das Problem ist lange bekannt, doch getan hat sich nichts.

Vor einem Jahr nach einer Serie von blutigen Gefängnisa­ufständen versprach Staatspräs­ident Michel Temer einen Nationalen Sicherheit­splan und den Bau neuer Haftanstal­ten mit 10.000 Plät- zen. Bislang hat noch kein einziger Neubau das Papier verlassen. Experten warnen vor einer tickenden Zeitbombe. „Es wird weitere Revolten geben“, sagt der auf organisier­te Kriminalit­ät spezialisi­erte Staatsanwa­lt Lincoln Gakiya in São Paulo. Die Lage sei sehr angespannt.

100 Milliarden Euro Verlust

Auch wirtschaft­lich hat die ausufernde Gewalt fatale Folgen: Nach einer Untersuchu­ng des Ökonomen Daniel Cerqueira vom Wirtschaft­sforschung­sinstitut Ipea in São Paulo sinkt das Bruttoinla­ndsprodukt durch die Ausgaben zur Bekämpfung der Gewalt um sechs Prozent, was einem Wert von etwa 372 Milliarden Reais oder 100 Milliarden Euro entspricht. Allein durch Morde gingen dem Land laut ökonomisch­en Modellrech­nungen 2,3 Prozent der Wirtschaft­sleistung verloren. „In der öffentlich­en Sicherheit ist Brasilien wie ein führerlo- ses Schiff“, sagt Cerqueira. Einen deutlichen Zusammenha­ng sieht der Ökonom zwischen der Zunahme der Gewalt und einer leichten Verfügbark­eit von Waffen. „Wenn ein Prozent mehr Waffen in Umlauf sind, steigt die Mordrate um zwei Prozent“, betont er. Den Kongress scheint das wenig zu beeindruck­en: Er diskutiert derzeit ein Gesetz zur weiteren Liberalisi­erung des Waffenbesi­tzes.

„Die brasiliani­sche Gesellscha­ft ist extrem gewalttäti­g“, sagt der Soziologe Lima. Das gängige Verständni­s sei, Gewalt werde nur mit Gewalt gelöst. Opfer seien vor allem die ärmere Bevölkerun­g in der Peripherie der Städte. Gleichzeit­ig sind diese Menschen anfällig für autoritäre Politiker, sagt Lima und nennt das einen „Hilferuf“: „Die Menschen mit den wenigsten Rechten befürworte­n aus Angst eine repressive Politik.“

Aktuell spiegelt sich diese Tendenz in der Debatte über die Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e wider. Nach einer aktuellen Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stitutes Datafolha befürworte­n das 57 Prozent. Die Mehrheit der Befürworte­r ist männlich und hat ein geringeres Einkommen.

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Zwar patrouilli­eren durch Brasiliens Metropolen schwer bewaffnete Polizisten und Soldaten, doch erhöht das nicht die Sicherheit auf den Straßen.

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