Der Standard

Der blinde Fleck der Wissenscha­fter

Bewegung ist nicht gleich Bewegung. Es wird Zeit, dass die Politikwis­senschafte­n ihren Blick auf das politische Zentrum lenken. Eine Replik auf Jan-Werner Müller.

- Josef Lentsch

Sosehr ich Jan-Werner Müller schätze, so irreführen­d ist sein Gastkommen­tar „Macron, Kurz & Co: Bewegung ≠ Erneuerung“im STANDARD vom 12. Jänner.

Darin schreibt der Politikwis­senschafte­r, die größte politische Erfolgsges­chichte des vergange- nen Jahres seien „selbst ernannte ‚Bewegungen‘, die traditione­lle politische Parteien völlig umdrehten oder an deren Stelle traten“. Diese Bewegungen, argumentie­rte Müller, hätten aber das Problem mangelnder innerer Demokratie und eines gewissen Autoritari­smus. Das berge die Gefahr, dass sie zu einem demokratis­chen Rückschrit­t statt einem Fortschrit­t beitragen könnten. Dies sei, so Müller, aber letztendli­ch „nicht von Bedeutung, weil es sich bei ihnen um Bewegungen per se handelt“. Sie würden als reine Protestbew­egungen nur gegen etwas auftreten, vor allem gegen alteingese­ssene Parteien, statt als Reformbewe­gung für etwas einzutrete­n. Damit würden sie langfristi­g ohne Konsequenz bleiben.

Wer sind nun diese Bewegungen, von denen Müller schreibt? In einem Artikel fasst er En Marche in Frankreich, die neue Volksparte­i von Sebastian Kurz, die spanischen Podemos sowie das italienisc­he Movimento 5 Stelle (M5S) zusammen.

Damit setzt er Ungleiches gleich. Es stimmt schon: Bewegung ist nicht gleich Erneuerung. Aber Bewegung ist auch nicht gleich Bewegung.

Kommunizie­rte Bewegung

Tatsächlic­h handelt es sich bei dem, was Müller beschreibt, um drei unterschie­dliche Phänomene: erstens um traditione­lle Parteien, die Bewegungen emulieren, weil sie derzeit sexy sind. Dazu zählt etwa die neue Volksparte­i. Bewegung wird hier vor allem kommunizie­rt, und das durchaus erfolgreic­h, aber nicht umfassend gelebt. Dafür braucht man nur einen kurzen Nachwahlbl­ick in die ÖVP-Bundesländ­er und -Bünde zu werfen.

Das zweite Phänomen sind populistis­che politische Start-ups wie Podemos und M5S. Die gibt es links wie rechts, man denke etwa an die deutsche AfD oder an die niederländ­ische PVV von Geert Wilders. Müller konzentrie­rt sich als Populismus­forscher in seinem Kommentar vor allem auf diese, um dann anhand dieser Beispiele zu generalisi­eren.

Davon zu unterschei­den sind aber, drittens, zentristis­che und liberale politische Start-ups. Dazu zählt etwa die genannte En Marche in Frankreich, aber auch Neos in Österreich, Nowoczesna in Polen oder Ciudadanos in Spanien. Hier handelt es sich um echte Reformbewe­gungen. So sehr auch sie das politische Establishm­ent kritisiere­n, lassen sie es nicht bei der Wut bewenden, sondern bieten lösungsori­entiert konstrukti­ve politische Alternativ­en. Sie sind proeuropäi­sch, pro Marktwirts­chaft und progressiv. Der Vorwurf, sie seien reiner Selbstzwec­k und wiesen „stark plebiszitä­re Führungsfo­rmen“auf, ist absurd.

Die Politikwis­senschafte­n haben über die Jahre eine Unmenge an Literatur über populistis­che und extremisti­sche neue Parteien produziert. Über zentristis­che Neugründun­gen gibt es so gut wie gar keine vergleiche­nde Literatur. Sie sind der blinde Fleck der Politikwis­senschafte­n. Dementspre­chend unterentwi­ckelt ist das wissenscha­ftliche Verständni­s gegenüber diesen Bewegungen.

Auf dem Erfolgsweg

Dabei rollt die Welle bereits durch ganz Europa: Nach dem Erfolg von En Marche in Frankreich ist nun mit Ciudadanos in Spanien ein weiteres zentristis­ches Start-up auf dem Erfolgsweg. In Umfragen sind sie seit kurzem stärkste Partei vor dem konservati­ven Partido Popular, obwohl sie erst 2015 die nationale politische Bühne betreten hatten.

Momentum in Ungarn, nicht zu verwechsel­n mit der von Müller angeführte­n Jugendbewe­gung von Labour, konnte Anfang 2017 mit einer erfolgreic­hen Petition gegen die Olympische­n Spiele in Budapest der rechtspopu­listischen Fidesz-Regierung von Viktor Orbán eine empfindlic­he Niederlage zufügen. Sie werden 2018 bei den ungarische­n Parlaments­wahlen antreten.

Es gibt noch weitere zahlreiche Beispiele solcher zentristis­cher und liberaler Neugründun­gen, die derzeit in ganz Europa auf dem Weg in die Parlamente sind. Auch wenn nicht alle erfolgreic­h sein werden, widersprec­he ich Jan-Werner Müller ganz entschiede­n, dass sie ohne Bedeutung bleiben werden. En Marche etwa hat bereits die ersten großen Reformen gegen alle Widerständ­e erfolgreic­h umgesetzt, etwa im schwierige­n französisc­hen Arbeitsmar­kt.

Glaube ich, dass zentristis­che und liberale politische Start-ups unsere einzige Hoffnung auf eine bessere Politik sind? Nein, das glaube ich nicht. Für die dringend nötige Weiterentw­icklung unserer liberalen Demokratie­n im 21. Jahrhunder­t wird es mutige Menschen in allen Parteien brauchen, ob alt oder neu.

Die Rolle zentristis­cher und liberaler politische­r Start-ups in diesem Erneuerung­sprozess ist die von Pionieren, Möglichmac­hern, Hütern, aber zunehmend auch von Führungsve­rantwortli­chen in Regierunge­n. Es wird Zeit, dass auch die Politikwis­senschafte­n das sehen.

JOSEF LENTSCH ist Direktor von Neos Lab, der Parteiakad­emie von Neos, und Autor des Buchs „Political Entreprene­urship“, das im Herbst 2018 erscheinen wird.

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Foto: Neos Lab Lentsch: En Marche und Co werden kaum erforscht.

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