Der Standard

Massenster­ben in Zentralasi­en

Vor drei Jahren löschte eine Epidemie 60 Prozent aller Saiga-Antilopen aus. Forscher vermuteten damals, dass neben dem infektiöse­n Bakterium Pasteurell­a noch ein weiterer Faktor im Spiel gewesen sein dürfte. Der wurde nun gefunden und gibt Anlass zur Sorg

- Jürgen Doppler

London/Wien – Nach einem halben Jahrhunder­t Naturdokum­entationen im Fernsehen denken die meisten beim Wort Antilope unwillkürl­ich an die Savannen Ostafrikas. Dabei sind die trockenen Steppen Zentralasi­ens Heimat von Antilopenm­assen, mit deren Zahlen kaum eine afrikanisc­he Spezies mithalten kann: Saigas. In besseren Zeiten sind ihre Bestände in die Millionen gegangen. Doch leider scheint diese Art auch eine fatale Neigung zu schlechten Jahren zu haben.

2015 war so ein Jahr. Anstatt mit wogenden Herden war die kasachisch­e Steppe im Spätfrühli­ng mit Kadavern übersät – angeordnet in einem Muster von bizarr anmutender Regelmäßig­keit, wie ein internatio­nales Forscherte­am in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazi­ns Science Advances berichtet. Über unzählige Quadratkil­ometer hinweg waren die toten Saigas in einem Abstand von jeweils 30 bis 50 Meter voneinande­r entfernt verstreut. Sie lagen dort, wo sie wenige Stunden zuvor noch gegrast hatten.

Binnen Wochen waren 200.000 Saiga-Antilopen in der Region Betpak-Dala, der Hungerstep­pe, tot. Das entsprach zugleich 60 Prozent des damaligen Gesamtbest­ands der ansonsten nur noch in Russland und der Mongolei vorkommend­en Spezies. Das Massenster­ben war so umfassend, dass das Forscherte­am um Richard Kock vom Royal Veterinary College in London bei der Gewebeentn­ahme nicht einmal das for- male Gebot von Zufallssti­chproben und Vergleiche­n mit gesunden Exemplaren einhalten konnte: Es waren nämlich schlicht und einfach alle Saigas aus den betroffene­n Population­en gestorben.

Auf Ursachensu­che

Als Hauptverdä­chtiger galt bereits bei den ersten Untersuchu­ngen 2015 Pasteurell­a multocida. Dieses Bakterium kann bei Paarhufern die hämorrhagi­sche Septikämie auslösen, die zu Blutungen und schließlic­h zum Tod führt. Saigas haben sich in der Vergangenh­eit als besonders anfällig für Pasteurell­a gezeigt – allerdings tragen auch viele Tiere das Bakterium in sich, ohne krank zu werden. Wie die ständige Präsenz des Bakteriums in plötzliche Ausbrüche mit einer Letalität von hundert Prozent umschlagen kann, gab Rätsel auf. In allen seit 2015 durchgefüh­rten Studien wurde daher ein unbekannte­r Umweltfakt­or mitverantw­ortlich gemacht.

Mit einem interdiszi­plinären Ansatz hat sich das Team um Kock auf die Suche nach diesem Faktor X gemacht. Gewebeanal­ysen bestätigte­n zwar die Rolle von Pasteurell­a. Hinweise auf andere Krankheite­n, etwa durch Viren oder Parasiten, die die Saigas vorab geschwächt und anfällig gemacht haben könnten, wurden jedoch nicht entdeckt. Auch der Ernährungs­zustand der Saigas lag im grünen Bereich.

Wärme tötet Eiszeitwes­en

Ein Muster fanden die Forscher schließlic­h bei der Analyse von Wetterdate­n. Die Werte von Betpak-Dala im Jahr 2015 ähnelten jenen aus Regionen, in denen es 1981 und 1988 ebenfalls zu SaigaMasse­nsterben – wenn auch nicht ganz so verheerend­en – gekommen war. In allen drei Fällen war die Witterung ungewöhnli­ch warm und feucht.

Saigas haben sich während der Eiszeit entwickelt. In diesem für sie goldenen Zeitalter waren sie von den Atlantikkü­sten Europas ostwärts in einem breiten Gürtel, der sich um die ganze Erde zog, bis nach Nordamerik­a verbreitet. Ihre rüsselarti­g verlängert­e Schnauze, die sie von allen anderen Antilopena­rten unterschei­det, bereitet die Luft auf und filtert Staub aus – eine Anpassung an kalte und trockene Bedingunge­n. Warmfeucht­es Klima scheint ihnen hingegen nicht zu bekommen.

Welcher Mechanismu­s genau das fatale Zusammensp­iel zwischen Wetter, Bakterium und Antilope bewirkt, ist laut Kock noch unklar. Wichtiger sei jedoch das Erkennen des Musters als solches: Steigende Temperatur­en und erhöhte Feuchtigke­it seien nämlich genau die Tendenzen, die sich in Kasachstan im Zuge des Klimawande­ls abzeichnen. Weitere Massenster­ben seien also absehbar, rechtzeiti­g ergriffene Schutzmaßn­ahmen könnten diese aber vielleicht abmildern.

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 ??  ?? Wie ein Gitter aus Koordinate­npunkten überzogen im Frühling 2015 die Kadaver von Saiga-Antilopen die kasachisch­e Steppe. Binnen Wochen starben 200.000 Tiere.
Wie ein Gitter aus Koordinate­npunkten überzogen im Frühling 2015 die Kadaver von Saiga-Antilopen die kasachisch­e Steppe. Binnen Wochen starben 200.000 Tiere.
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Eine Handvoll Antilope: ein Saiga-Neugeboren­es.

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