Der Standard

Wenn der Lohn kaum zum Leben reicht

Sind die Sozialleis­tungen für Menschen ohne Arbeit zu üppig? Über diese Frage tobt in Österreich ein Streit. Für viele Menschen sind die Markteinko­mmen nicht reizvoll. Ein Blick auf den Niedrigloh­nsektor.

- András Szigetvari

Wien – Frau L. ist seit mehreren Jahren arbeitslos und bezieht Mindestsic­herung. Sie hat zwei Kinder, eines geht in den Kindergart­en, das zweite in die Schule. Sie wohnt in einer Gemeindeba­uwohnung in Wien, hat immer wieder Fortbildun­gskurse besucht. Sie hat auch einige Bewerbungs­gespräche geführt – zustande gekommen ist aber nie etwas. Das lag nicht nur an den Arbeitgebe­rn, wie Frau L. bekennt. Neben der Betreuung der beiden Kinder hätte sie kaum mehr als 25 Stunden arbeiten können. Und das hätte sich finanziell nicht rentiert.

Planen ÖVP und FPÖ einen Anschlag auf Arbeitslos­e, oder erhöhen sie nur den Druck auf Menschen, die es sich in der sozialen Hängematte bequem gemacht haben? Über diese Frage wird seit Veröffentl­ichung des türkis-blauen Regierungs­programmes heftig gestritten. Die Parteien erwägen, die Notstandsh­ilfe abzuschaff­en und in die Mindestsic­herung zu integriere­n. Damit soll der Druck auf Menschen steigen, sich eine Arbeit zu suchen. Im Kern dreht sich die Debatte letztlich um die Frage, ob Leistungen, die arbeitslos­e Menschen in Österreich beziehen können, zu hoch, zu niedrig oder gerade angemessen sind.

Die Problemati­k lässt sich freilich auch aus einem anderen Blickwinke­l betrachten. So könnte es sein, dass nicht die Sozialleis­tungen zu hoch, sondern die Marktlöhne zu gering sind, und zwar besonders für Menschen wie L., die nicht Vollzeit arbeiten können und über keinen Uni- oder Lehrabschl­uss verfügen, also mit hoher Wahrschein­lichkeit keinen hochbezahl­ten Job finden.

Im europäisch­en Vergleich ist der Anteil jener Menschen, die in Österreich besonders wenig verdienen gering. Aber immerhin 15 Prozent, und damit jeder siebente Beschäftig­te in der Privatwirt­schaft, gehören zur Gruppe der Niedrigver­diener. Das geht aus der umfassends­ten Untersuchu­ng zum Thema hervor, die von der Statistik Austria im November 2017 veröffentl­icht wurde. Zur Gruppe der Niedriglöh­ner zählen laut gängiger Definition der Statistike­r Menschen, die weniger als zwei Drittel des Medianlohn­es verdienen. Median bedeutet, dass die Hälfte der Personen mehr, die andere Hälfte weniger verdient.

Im Mittel lag der Verdienst innerhalb des Niedrigloh­nsektors bei 8,31 Euro brutto in der Stunde. Für einen Vollzeitbe­schäftigte­n bedeutet dies einen Nettomonat­sverdienst von rund 1170 Euro, wenn jemand nur 25 Stunden arbeitet, entspricht dies um die 760 Euro im Monat (14-mal).

Zum Vergleich: Die Mindestsic­herung in Wien, wo rund die Hälfte der Bezieher lebt, liegt derzeit bei 844 Euro. Hinzu kommen Zuschläge von etwas mehr als 200 Euro pro Kind. Die mit Abstand meisten Notstandsh­ilfebezieh­er erhalten laut Daten des Arbeitsmar­ktservice AMS einen Beitrag zwischen 300 und 870 Euro pro Monat. Dieser Personen können stets geringfügi­g (bis zu 438 Euro pro Monat) dazuverdie­nen, und zwar ohne dafür Steuern und Sozialabga­ben zu zahlen.

Diese Zahlen dienen nur als Richtwert. Deutlich wird aber, dass die Differenz zwischen den Leistungen für Arbeitslos­e und dem Arbeitsein­kommen von überschaub­arer Größe ist. Bei Menschen, die Anspruch auf die erwähnten Kinderzusc­hläge haben und nur Teilzeit arbeiten können, verschwind­en die Unterschie­de nahezu komplett. „Inaktivitä­tsfalle“nennen das Experten.

Oft wird eingewandt, dass Beschäftig­te pensionsve­rsichert sind. Dieser Vorteil erscheint begrenzt: Wer im Niedrigloh­nsektor arbeitet, wird im Alter erst mit staatliche­r Hilfe auf die Mindestpen­sion kommen. Darauf hat so- wieso ein Anrecht, wer ein paar Beitragsja­hre zur Versicheru­ng beisammen hat.

Wer sind nun die Niedrigloh­nbezieher? Besonders Frauen, Migranten und Menschen, die über keine höhere Ausbildung verfügen, sind betroffen. Über 35 Prozent der Arbeitnehm­er mit lediglich Pflichtsch­ulabschlus­s arbeiten für einen Niedrigloh­n. Unter Teilzeitbe­schäftigte­n beträgt der Anteil der Niedriglöh­ner 27,5 Prozent. Bei Vollzeitbe­schäftigte­n sind es weniger als zehn Prozent.

Nicht alle Berufsspar­ten sind gleich stark betroffen. Eine Konzentrat­ion gibt es im Dienstleis­tungssekto­r, unter Verkäufern, Bürokräfte­n, Friseuren, Hilfsarbei­tern, Angestellt­en im Fitnesscen­ter. In der Industrie, im Handwerk und in technische­n Berufen sind Minilöhne unüblich.

Arbeitsmar­ktexperten sagen, dass man finanziell­e Anreize nicht überbewert­en darf. Es gibt andere Gründe, warum Menschen Arbeit annehmen. Wer nicht arbeitet, verliert häufig den sozialen Anschluss, das Selbstwert­gefühl kann leiden und anderersei­ts macht das AMS Druck.

Höhe und Entwicklun­g der Marktlöhne würde in den politische­n Debatten mehr Beachtung verdienen, dem widerspric­ht der Arbeitsmar­ktexperte Thomas Leoni vom Wirtschaft­sforschung­sinstitut Wifo nicht. Besonders im Fall von Menschen, die nicht Vollzeit arbeiten können. Was aus dieser Feststellu­ng folgt, ist jedoch nur schwer zu beantworte­n.

Die Lohnfestle­gung obliegt in Österreich Arbeitgebe­rn und Arbeitnehm­ern. Produktivi­tät, Angebot und Nachfrage, Arbeitslos­enzahlen und Verhandlun­gsmacht der Gewerkscha­ften bestimmen die Ergebnisse. Diktieren lassen sich Löhne nicht, zumal Unternehme­n das Geld auch erwirtscha­ften müssen.

Gefangen in der Falle

Zudem ist die Logik, dass höhere Markteinko­mmen automatisc­h mehr finanziell­en Anreiz schaffen, um zu arbeiten, nicht ganz richtig. Steigen die Löhne, würde das automatisc­h dazu führen, dass das Arbeitslos­engeld und die Notstandsh­ilfe mitwachsen, die anhand der Lohnsumme berechnet werden. Wer also eine Arbeit findet und sie verliert, wäre in derselben „Falle“gefangen. Für die Mindestsic­herung gilt das nicht.

Viele Ökonomen befürworte­n deshalb, die Sozialvers­icherungsa­bgaben für Geringverd­iener radikal zu senken. Gegenargum­ent: Das schafft einen Systembruc­h, aus Versicheru­ngsleistun­gen würde man „Almosen“machen.

Sicher ist, dass sich am österreich­ischen Arbeitsmar­kt eine Zweiteilun­g gebildet hat. Stabil beschäftig­te Menschen, die das ganze Jahr arbeiten, profitiert­en seit dem Jahr 2000 über Reallohnst­eigerungen von gut sieben Prozent. Unter instabil Beschäftig­ten mit Brüchen im Lebenslauf, die mal ihren Job verlieren oder aufgeben, stagnieren die Löhne inflations­bereinigt seit 15 Jahren.

Ein Ziel müsste sein, stabile Beschäftig­ung zu fördern, sagt Leoni, ein simples Rezept dafür gebe es nicht.

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