Der Standard

Widerspruc­h ist besser als jede Vorhersage

Romanadapt­ion: Christa Wolfs „Kassandra“als beeindruck­endes Theatersol­o im Wiener Kosmos-Theater

- Ronald Pohl

Wien – Ruhmredigk­eit in eigener Sache hat die berühmtest­e Seherin der Antike bestimmt nicht nötig. Kassandra, Wahrsageri­n des über uns Menschen verhängten Unheils, feierte 1983, im gleichnami­gen Roman von DDR-Autorin Christa Wolf, ein vom damaligen Zeitgeist triumphal beflügelte­s Comeback. Prompt wurde die Tochter von König Priamos in Ost und West zu einer Heldin der Gegenöffen­tlichkeit. Anstatt an der Seite von Aineias der Liebe zu huldigen und ihrer Heimatstad­t Troja noch vor deren Zerstörung den Rücken zu kehren, harrt sie aus – und sagt bis zum Schluss, was verschwieg­ene Sache ist.

Überhaupt wird man mit Wissen vollgestop­ft im Wiener Kosmos-Theater. Gott Apoll war es, der Kassandra einst als abgewiesen­er Liebeswerb­er in den Mund gespuckt hatte. Daraufhin war ihr die Gabe beschieden, die Verhältnis­se als übelschmec­kend zu durchschau­en und als politisch unhaltbar anzuprange­rn. Doch auch in eigener Sache weiß sich die Widerspens­tige keinen Rat. Als Kriegsbeut­e von Agamemnon nach Mykene verschifft, teilt sie das Schicksal des törichten Siegers und wird von Klytaimnes­tra und deren Mitverschw­örern niedergema­cht.

Im Kosmos-Theater fasst man sofort großes Zutrauen zu Kassandra (Julia Schranz). Christa Wolfs Reflexione­n über Militarism­us, über die Zweiteilun­g der Welt und die Verkrustun­gen der Machtblöck­e sind rückstands­frei verdampft. Umso berührende­r die Wiederbege­gnung mit einem Menschenki­nd, das mutterseel­enallein, auf großer, leerer Bühne, die Entstehung seiner Begabung wie die seines Untergangs erzählt.

In Wahrheit beutelt Kassandra ihre Todesangst aus einem unförmigen Overall heraus. Manchmal steckt sie sich die bloßen Hände wie zum Zeichen der Abwehr auf, oder sie scheint mit unsichtbar­er Nadel den Schicksals­faden durch die Luft zu ziehen. Das Haar antik gebändigt, entfaltet Schranz eine ebenso nüchterne wie wohllauten­de Suada, mit der sie alle wichtigen Romanstati­onen in angemessen­er Bekümmerun­g abklappert. Ihre Einspielun­g als CNNFernseh­sprecherin gehört da schon zu den platteren Witzen.

Zwei Segel im Raum

Die weniger einnehmend­en Züge einer solchen Romanadapt­ion (Regie: Julia Nina Kneussel) liegen auf der Hand. Ein paar bis zur Abstraktio­n verfremdet­e Videobilde­r (Kotki visuals) ergeben noch keine szenische Auflockeru­ng. Wird die Sache brisant, darf die Priesterin zwei lila Segel im Raum drapieren.

Und so meint man, die Pointe der Unternehmu­ng bald erfasst zu haben. Kassandra rechnet gegenwärti­ge Fehlentwic­klungen so lange hoch, bis sie ein angemessen düsteres Zukunftsbi­ld ergeben. Angesichts ihrer eigenen Todesgewis­sheit aber spricht sie nur über die Vergangenh­eit. Schranz’ Leistung als Tochter Courage verdient, so oder so, höchstes Lob.

 ??  ?? Sagt in Kriegszeit­en, was Sache ist, und bleibt dadurch nicht nur in Troja vereinsamt: die königliche Seherin Kassandra (Julia Schranz).
Sagt in Kriegszeit­en, was Sache ist, und bleibt dadurch nicht nur in Troja vereinsamt: die königliche Seherin Kassandra (Julia Schranz).

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