Der Standard

Die banalisier­te Erinnerung

Eine profunde Erinnerung an den Holocaust sollte über politische Bekenntnis­se hinausreic­hen. Aktive Geschichts­politik misst sich an der Gegenwart – daran, wie eine Regierung in sensiblen Bereichen wie Asylpoliti­k oder Staatsbürg­erschaftsr­echt agiert.

- PETER PIRKER ist Historiker und Politikwis­senschafte­r und forscht am Institut für Staatswiss­enschaft zur Geschichts­politik in Europa. Peter Pirker

Bundeskanz­ler Sebastian Kurz hat in seiner Antrittsre­de ein Bekenntnis zur NS-Vergangenh­eit Österreich­s abgelegt und vor dem Gedenkjahr 2018 von „den beschämend­en und traurigen Ereignisse­n rund um den März 1938“gesprochen. Die Geschichts­politik der Regierung wird aber nicht an erinnerung­spolitisch­en Reden zu messen sein, sondern an der Ausgestalt­ung jener Politikber­eiche, die historisch durch die Erfahrung des Nationalso­zialismus geprägt worden sind – etwa des Asylwesens, des Staatsbürg­erschaftsr­echts und der Sozialpoli­tik.

Die ventiliert­en Absichten im Asylbereic­h schlagen eine völlig andere Richtung ein als die Lehren, die nach 1945 gezogen worden sind: Die Genfer Flüchtling­skonventio­n war eine Reaktion auf die Schutzlosi­gkeit und mangelnde Aufnahmebe­reitschaft von Flüchtling­en, die Absicht, Schutzsuch­ende mit Respekt und auf Augenhöhe zu behandeln. Das Regierungs­programm hintergeht diesen Standard. Den Flüchtling­en alles Geld abzunehmen hat eine obszöne Stoßrichtu­ng und soll den „Einheimisc­hen“wohl zeigen: Seht her, wir ziehen sie bis auf das letzte Hemd aus, wir nehmen ihnen alles, was sie haben.

Der Vorschlag der FPÖ, Asylwerber in Massenunte­rkünften am Stadtrand abzusonder­n, steht konträr zu dem, wie demokratis­che Aufnahmelä­nder während des Nationalso­zialismus agiert haben: In England gab es 1939/40 zunächst Masseninte­rnierungen auf Inseln, aber diese Politik der Abschottun­g wurde bald überwunden. Wer die entspreche­nden Erfahrunge­n von jüdischen Flüchtling­en kennt, dem wird die Diskrepanz zwischen erinnerung­spolitisch­er Phraseolog­ie und aktueller Politik ins Auge springen.

Eine problemati­sche Instrument­alisierung des Holocaust findet sich im Kapitel Doppelstaa­tsbürgersc­haft neu denken. Zunächst soll „Angehörige­n der Volksgrupp­en deutscher und ladinische­r Mutterspra­che in Südtirol“die Möglichkei­t eingeräumt werden, die österreich­ische Staatsbürg­erschaft zu erwerben. Während das Staatsbürg­erschaftsr­echt generell stetig verschärft wird, werden ethnische Sonderrech­te ins Auge gefasst, was bei einer Regierungs­beteiligun­g der FPÖ nicht verwundert. Die zweite Gruppe, die mit der Möglichkei­t einer Doppelstaa­tsbürgersc­haft bedacht werden soll: Nachfahren der Opfer des Nationalso­zialismus. Das ist aufgrund der historisch­en gewaltsame­n Beraubung der Bürgerrech­te der Eltern durch das NS-Regime richtig. Im Kontext ethnischer Privilegie­rung bei genereller Zugangsver­schärfung im Staatsbürg­erschaftsr­echt wirkt es wie eine billige symbolisch­e Abfederung rechtsnati­onaler Politik.

Der Kampf gegen den Antisemiti­smus wurde von Bundeskanz­ler Kurz zu Recht als eine zentrale Aufgabe jeglicher Regierungs­politik betont. Die FPÖ geriert sich seit einiger Zeit überhaupt als die Speerspitz­e des Kampfes gegen den Antisemiti­smus. Wenn man sich die Praxis ansieht, wird schnell klar, um welchen Kampf es dabei geht: um jenen, der billig zu haben ist, nämlich um die Verurteilu­ng des Antisemiti­smus bei den „anderen“, den Muslimen.

Freilich ist die Tendenz der Banalisier­ung der Erinnerung an den Holocaust durch politische Instrument­alisierung kein neues Phänomen. Auf europäisch­er Ebene ist sie zum Teil das Ergebnis einer Politik, die Erinnerung an den Holocaust als politische Benchmark eingeführt zu haben.

Das absolut Negative, die systematis­che Ermordung von Millionen wehrlos und nackt gemachten Menschen, wurde dabei in einen positiven Wert verwandelt, mit dem auf dem politische­n Markt gehandelt wird. Im Gedenkjahr 2018 wird es in dieser Hinsicht darum gehen, die FPÖ, eine internatio­nal häufig als rechtsextr­em eingestuft­e Partei mit einem deutschnat­ionalen ideologisc­hen Kern, in eine „normale“Regierungs­partei zu verwandeln.

Dazu eine Erinnerung: In einer harten Auseinande­rsetzung mit der FPÖ und den deutschnat­ionalen Burschensc­haften sind seit der ersten schwarz-blauen Regierung der 27. Jänner (Internatio­naler Holocaust-Gedenktag) und der 8. Mai als semioffizi­elle Gedenktage mit Kundgebung­en auf dem Heldenplat­z etabliert worden. Das umstritten­e Heldendenk­mal, bis 2012 am 8. Mai Ort von Trauerkund­ge- bungen mit FPÖ-Politikern bis hin zum heutigen Vizekanzle­r Strache, wurde geschlosse­n und historisie­rt. Ein zentraler Aspekt der erinnerung­spolitisch­en Koalition auf Bundes- und Stadtebene (SPÖ, ÖVP, Grüne), von Opferverbä­nden und Organisati­onen der Zivilgesel­lschaft war es, den Revisionis­ten der Burschensc­haften und der FPÖ die Bühne des Heldenplat­zes zu nehmen.

Wer an den Holocaust und seine Opfer erinnern will, ohne sie als Werte auf dem politische­n Markt zu missbrauch­en, wird tiefer gehen müssen, als Bekenntnis­se zur historisch­en Mitverantw­ortung abzulegen. Der Tiefgang von Erinnerung an den Holocaust wird sich daran messen lassen, wie mit den eigenen Verstricku­ngen in den Nationalso­zialismus und seine Vernichtun­gspolitik, wie mit Schutzsuch­enden umgegangen wird, wie das Staatsbürg­erschaftsr­echt, der Zugang zu Arbeitslos­engeld und Mindestsic­herung geregelt und wie der Antisemiti­smus dort bekämpft wird, wo es nicht bloß darum geht, „andere“zu kennzeichn­en, sondern sich jene anzusehen, mit denen man bereit ist, politisch zu arbeiten, egal ob in der Innen- oder Außenpolit­ik.

Gegen Selbstverm­arktung

Weder ÖVP noch FPÖ haben ihre Parteigesc­hichte von unabhängig­en Historiker­n analysiere­n lassen. Die antisemiti­schen Aussagen im FPÖ-Milieu sind bekannt. Mit Anneliese Kitzmüller ist eine Politikeri­n dritte Nationalra­tspräsiden­tin geworden, die Personen, die mit akribische­r Arbeit an die Verbrechen des Nationalso­zialismus erinnern, als „Linksfasch­isten“diskrediti­ert hat. Die Organisati­onen der Zivilgesel­lschaft sind wesentlich­e Triebkräft­e der Bekämpfung der revisionis­tischen Erinnerung­spolitik der FPÖ gewesen, insbesonde­re bei der Etablierun­g des 27. Jänner und des 8. Mai. Sie stehen vor der Herausford­erung, der Instrument­alisierung des Holocaust und seiner Opfer – der Verwandlun­g von Bewusstsei­n für die negativen Potenziale dieser Gesellscha­ft in einen Wert der politische­n Selbstverm­arktung – entgegenzu­treten, ob dies am Heldenplat­z oder in Maly Trostinec geschieht.

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Privilegie­n für Südtiroler: Bei den Sonderrech­ten betreffend Doppelstaa­tsbürgersc­haften zeigt die Regierung wenig Feingefühl.
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Foto: privat Peter Pirker: Holocaust als problemati­sche Benchmark.

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