Der Standard

Wenn die Familie zahlt

Die Abschaffun­g der Notstandsh­ilfe würde dazu führen, dass in vielen Fällen die Familie anstelle des Staates Arbeitslos­e werde auffangen müssen, sagen Experten. Dafür sorgt eine Sonderrege­l bei der Mindestsic­herung.

- András Szigetvari

Die Abschaffun­g der Notstandsh­ilfe kann, vor allem auf dem Land, dazu führen, dass die Familie Arbeitslos­e auffangen muss.

Wien – Ist es nur fair und gerecht, wenn Kinder ihren finanziell in Not geratenen Eltern aushelfen müssen, oder ist das eine Überforder­ung der jungen Generation? Im Streit um die mögliche Abschaffun­g der Notstandsh­ilfe spielt diese Frage eine wichtige und in den öffentlich­en Debatten bisher unterschät­zte Rolle.

Die türkis-blauen Koalitions­partner erwägen, die Notstandsh­ilfe zu streichen. Die Überlegung laut dem Regierungs­programm: Künftig soll es nur noch eine Arbeitslos­enunterstü­tzung geben, daran anschließe­nd würden Leistungen aus der Mindestsic­herung folgen. Die Notstandsh­ilfe kann unbegrenzt bis zur Pensionier­ung gewährt werden, und dies sei oft eine Einladung, in der sozialen Hängematte Platz zu nehmen, so die Argumentat­ion.

Seit dem Bekanntwer­den der Pläne wird hitzig diskutiert. Vor allem der Umgang mit Vermögen spaltet die Geister. Bei der Mindestsic­herung gilt im Gegensatz zur Notstandsh­ilfe, dass das eigene Vermögen bis auf einen kleinen Rest von 4000 Euro aufgebrauc­ht sein muss. Dabei gibt es noch einen wesentlich­en Unterschie­d zwischen den Sozialleis­tungen.

Bei der Mindestsic­herung gilt wie bei der Notstandsh­ilfe, dass bei der Beurteilun­g der finanziell­en Notlage eines Antragstel­lers das Partnerein­kommen berücksich­tigt wird. Wer also in einem gemeinsame­n Haushalt mit einem Partner lebt, der gut verdient, erhält weniger Leistungen.

Allerdings gilt bei der Mindestsic­herung, dass auch das Einkommen anderer Personen, die im Haushalt leben, berücksich­tigt wird. Die entspreche­nden Landesgese­tze sprechen von der „Bedarfsgem­einschaft“, deren finanziell­e Lage als Ganzes relevant ist. In allen Bundesländ­ern werde das Einkommen der erwachsene­n Kinder im Haushalt mitberücks­ichtigt, sagt der Soziologe Michael Fuchs, der intensiv zur Mindestsic­herung gearbeitet hat.

Ein Beispiel: In Oberösterr­eich leben die Eltern mit ihrer erwachsene­n Tochter und deren Kind in einem Mehrgenera­tionenhaus­halt. Der Vater und die Tochter sind berufstäti­g. Verliert der Vater seinen Job und rutscht in die Notstandsh­ilfe, wird das Einkommen der Tochter nicht berücksich­tigt, wenn es darum geht festzustel­len, auf wie viel Geld die Bedarfsgem­einschaft Anspruch hat.

Bei der Mindestsic­herung ist das anders. Das Einkommen der Tochter wird eingerechn­et und sorgt dafür, dass die Höhe der ausbezahlt­en Unterstütz­ung sinkt. Die Familie ersetzt den Staat.

Alle unter einem Dach

Laut dem Soziologen Fuchs geht die Tendenz sogar in die Richtung, dass auch Einkommen anderer Personen außerhalb der Familie eingerechn­et werden.

Wie viele Fälle wären in der Praxis betroffen? In Österreich sind Mehrgenera­tionenhaus­halte verbreitet­er, als viele denken. 690.000 Personen leben laut Statistik Austria in einem Zwei- oder Mehrfamili­enhaushalt. Die meisten solcher Großfamili­en unter einem Dach dürfte es auf dem Land geben – in Niederöste­rreich, Oberösterr­eich, Tirol. Darauf deutet anekdotisc­he Evidenz hin. Laut Statistik Austria ist ein typischer Haushalt auf dem Land jedenfalls größer als in Wien.

DER STANDARD hat sich in mehreren Bundesländ­ern umgehört und die für Sozialpoli­tik zuständige­n Abteilunge­n in der Landesregi­erung kontaktier­t. Eine ausgewerte­te Statistik zu der Frage, wie oft Einkommen erwachsene­r Kinder oder anderer Personen bei der Mindestsic­herung eingerechn­et werden, hatte man nirgends parat.

In Oberösterr­eich erzählt ein Beamter, dass in der Praxis genau auf die Haushaltsg­röße und -form geachtet werde. Leben zwei Familien unter einem Dach, gelte, dass es sich um zwei Haushalte handle, wenn Toiletten, Bad, Küche und Eingang getrennt seien. Gebe es nur einen Eingang, sei dies „ein Grenzfall“, die Behörde entscheide dann nach einer Abwägung.

Der Soziologe Michael Fuchs ist überzeugt, dass die unterschie­dliche Rechtslage bei Mindestsic­herung und Notstandsh­ilfe eine zentrale Rolle spielt. Fuchs arbeitet am Europäisch­en Zentrum für Wohlfahrts­politik und Sozialfors­chung in Wien und hat im Auftrag des Finanzmini­steriums untersucht, wie sich das Ende der Notstandsh­ilfe auswirken würde.

Die Hauptaussa­ge seiner Arbeit ist bekannt: Der Staat würde sich in der Basisvaria­nte rund 700 Millionen Euro pro Jahr ersparen. Im Gegenzug würde das Armutsrisi­ko steigen. Weniger bekannt ist, woher diese Ersparnis kommt.

Die ausbezahlt­e Notstandsh­ilfe ist in vielen Fällen niedriger als die Richtsätze der Mindestsic­herung. Fuchs sagt, dass die Einsparung­en primär aus der unterschie­dlichen Betrachtun­g der Haushalte in beiden Systemen herrühren.

Bei der Mindestsic­herung wird das Einkommen der Partner schon ab einer geringeren Höhe berücksich­tigt, und der Verdienst anderer Haushaltsm­itglieder zählt ebenso. Das führt dazu, dass der Wegfall der Notstandsh­ilfe für viele Haushalte eine finanziell­e Schlechter­stellung bedeutet. Ist das fair? Fuchs will dazu nichts sagen. Die Argumente müsse jeder abwägen.

Sicher ist, dass die Notstandsh­ilfe bald noch vorteilhaf­ter wird. Mit 1. Juli fällt die Anrechnung des Partnerein­kommens nämlich komplett weg.

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