„Die Bewegung im Iran ist nur die Spitze des Eisbergs“
Die Proteste im Iran seien zwar abgeflaut – weil die Unzufriedenheit aber so groß ist, würden sie bald wieder aufkommen, sagt Menschenrechtler Behrooz Bayat.
Standard: Warum haben die Menschen im Iran protestiert? Bayat: Es liegt einerseits an der schlechten wirtschaftlichen Situation, andererseits am Verlust der Hoffnung auf eine Verbesserung. Früher hat man noch gehofft, durch Reformen das System zu verändern – jetzt herrschen Enttäuschung und Wut über das katastrophale Ausmaß der Korruption, die politische und kulturelle Unfreiheit und die ökonomische Ineffizienz. Es war also zu erwarten, dass die Bürger sich diese Situation nicht gefallen lassen.
Standard: Grund für die Proteste waren zunächst Wirtschaftsprobleme, dann ging es aber allgemein gegen Politik und Staatsführung. Bayat: Die Menschen haben eingesehen, dass die Ursache für die miserable ökonomische Situation im Politischen liegt. Sofort wurde die Systemfrage gestellt: „Nieder mit dem Diktator, nieder mit Khamenei“, wurde skandiert.
Standard: Und das, obwohl die Proteste ja zunächst von den Hardlinern initiiert worden sein sollen, um Präsident Hassan Rohani und seine Regierung zu demontieren ... Bayat: Die Hardliner haben gehofft, auf dieser Welle der Unzufriedenheit reiten zu können und die Regierung vielleicht zu schwä- chen. Aber binnen Stunden ging es über die ursprünglichen Absichten der Initiatoren hinaus.
Standard: Wird weiter protestiert werden? Momentan wirkt es ruhig. Bayat: Ich glaube nicht, dass die Bewegung verschwindet. Durch massive Repression könnte sie unterdrückt werden – aber die Unzufriedenheit ist so groß, dass, wenn sie heute unterdrückt wird, sie sich bald wieder melden wird.
Standard: Im Gegensatz zu 2009 haben auch auf dem Land viele Menschen demonstriert. Bayat: Die Proteste in 80 bis 100 unterschiedlich großen Städten im Land haben gezeigt, dass das Regime weder die Großstädte noch das Land auf seiner Seite hat. In den Großstädten kann man an den Demonstrationen teilnehmen und danach in der Anonymität versinken. Dass sich so viele Menschen über Tage so massiv exponiert haben, deutet darauf hin, dass sie wissen, ihre Umgebung steht ihnen positiv gegenüber. Indirekt kann man daraus schließen, dass diese Bewegung nur die Spitze des Eisbergs ist – der größere, ruhigere Teil ist noch unter Wasser.
Standard: Was könnte die Regierung tun, um den Demonstranten entgegenzukommen? Bayat: Das Regime verfügt nicht über die Ressourcen, um die Bürger durch populistische Wohltaten ruhigzustellen. Was das Regime tun könnte, wären klare Signale in Richtung politische Öffnung, um vor allem den jungen Menschen eine Perspektive zu bieten.
Standard: Zum Beispiel? Bayat: Schritte in Richtung einer gesellschaftlichen Lockerung, dass also nicht mehr in jegliche Lebenssituation eingegriffen wird. Auch eine Erweiterung der politischen Freiheit wäre möglich, dass also etwa Medien, Parteien oder NGOs frei operieren können.
Standard: Wird Irans religiöser Führer Ali Khamenei das zulassen? Bayat: Das kann nur Erfolg haben, wenn Khamenei Einsicht zeigt – das kann er nur unter großem Druck. Wenn es um die Existenz der Islamischen Republik ging, haben die Machthaber immer rational gehandelt. Wenn das Regime überleben will, wenn die Administration unter Druck der Umstände nicht mehr funktionsfähig ist, bevor es also zu einem Zerfall des Staates kommt, ist es erforderlich, dass solche Schritte unternommen werden.
Standard: Warum sind die Proteste momentan abgeflaut? Bayat: Ein großes Problem ist, dass die Bewegung über keine Führung verfügt. Das Regime hat systematisch jeden Versuch zur Heranbildung von Menschen, Parteien oder Gruppen, die als Referenzen für die Bewegung dienen könnten, zerschlagen. Der Druck auf der Straße ist außerdem sehr groß, das Regime hat seine Kräfte massiv zusammengezogen.
Standard: Rund 3700 Menschen wurden einem Parlamentsabgeordneten zufolge bei den Protesten festgenommen – wer sind sie? Bayat: Es gibt keine Liste mit Namen, niemand weiß es so genau. Man muss von 3700, wahrscheinlich sogar von mehr Menschen ausgehen. Es gibt auch sehr viele Verschollene. Zu einem erheblichen Teil sind es Menschen, die an den Protesten teilgenommen haben. Vor allem in Teheran gibt es aber Hinweise, dass Studenten, die möglicherweise Anführer der Bewegung werden könnten, vorbeugend festgenommen wurden.
BEHROOZ BAYAT (74), in Österreich lebender Exiliraner, ist Atomphysiker und war als freiberuflicher Berater auch für die Internationale Atomenergiebehörde IAEA in Wien tätig. Er engagiert sich unter anderem im Komitee zur Verteidigung der Menschenrechte im Iran. pLangfassung: dSt.at/Iran