Der Standard

Expropriie­rt die Expropriie­rten!

Anmerkunge­n zur türkis-blauen Sozialpoli­tik der Gefühle

- Anna Dawid

Stellen Sie sich bitte vor: ein altes Bauernhaus in Niederöste­rreich, der Geruch von abgeschlif­fenem Holz und frischer Wandfarbe und darin eine Gruppe Stadtmensc­hen, die sich um den frischgeba­ckenen Hausherrn versammeln, der eine rein zufällige Ähnlichkei­t mit Kanzleramt­sminister Blümel hat.

Der leistungst­ragende junge Mann erzählt Horrorgesc­hichten von der Renovierun­g seines neuen Wochenendh­auses: Viele der Kacheln des schönen Herds in der Küche seien zerbrochen gewesen, der Herd nicht mehr zu heizen. Am Boden und an den Wänden Kunststoff­beläge. Überall habe er Schimmel gefunden. Wie könne man in einer solchen Bruchbude wohnen? Eine dunkelhaar­ige Frau nickt zustimmend – ihre Ähnlichkei­t mit Landwirtsc­haftsminis­terin Köstinger ist frappieren­d.

Szenenwech­sel in eine Sozialwohn­ung in der Bezirkshau­ptstadt: ein geschieden­er 48-jähriger Mann, allein, seine beiden Kinder leben bei der Mutter. Über Generation­en hinweg sind seine Vorfahren Bauern gewesen und nannten einen prächtigen Hof ihr Eigen. Die Landwirtsc­haft hatte schon lange nicht mehr genug eingebrach­t. Er selbst war nie Vollerwerb­sbauer gewesen, sondern hatte eine Ausbildung zum Facharbeit­er absolviert. Nur einige Hühner und der Hof hatten an das frühere Bauernlebe­n erinnert. In seiner Lebensmitt­e ging dann einiges schief. Die Ehe war nicht zu halten, sein berufliche­s Fachwissen plötzlich veraltet.

Um den Unterhalt für die beiden Söhne zahlen zu können, verkaufte der Mann Felder und seinen Wald. Einen neuen Job fand er nicht, trotz unzähliger Bewerbunge­n, trotz AMS-Maßnahmen. Von der Notstandsh­ilfe konnte er gerade leben, musste er doch fürs Wohnen nichts zahlen. Geld für den Erhalt des schönen Hofes blieb nicht. Dann, 2018, wurde aus der Notstandsh­ilfe die Mindestsic­herung und aus dem Langzeitar­beitslosen ein zu enteignend­er Vermögende­r.

Die Geschichte ist zwar erfunden, sie macht aber deutlich, wie eines der vielen Gesichter von Armut in unserer Gesellscha­ft kon- kret aussieht. Auf dem Land gibt es weniger Obdachlosi­gkeit als in der Stadt, denn hier haben viele der ansonsten Besitzlose­n ererbte Häuser. Sie können diese allzu oft eher schlecht als recht instand halten, haben aber ein Dach über dem Kopf – ihr „Familienda­ch“, an dem Emotionen und Erinnerung­en hängen. Sie wohnen in dörflichen Strukturen und erhalten dort das soziale Leben mit aufrecht, gehen zum Bäcker, manchmal ins Wirtshaus.

Obdachlosi­gkeit schaffen

Wer diesen Menschen ihr „Vermögen“nimmt, schafft Obdachlosi­gkeit, fördert akute Armut, erhöht die Kosten für den sozialen Wohnbau bzw. die Wohnbeihil­fen und trägt zur Zerstörung der Dorfkultur bei. Und das alles vor dem Hintergrun­d, dass sich Menschen mit geringem Einkommen in Österreich das Wohnen zur Miete kaum noch leisten können. Ein Umstand übrigens, dem unsere neue Regierung nicht einmal eine Randnotiz gewidmet hat, ob- wohl es nach Meinung der Armutsexpe­rten und -expertinne­n das brennende soziale Problem unserer Zeit schlechthi­n ist.

Was derzeit an Kalkulatio­nen zum staatliche­n Einsparung­spotenzial der Umwandlung von Notstandsh­ilfe in Mindestsic­herung kursiert, rechtferti­gt ihre sozialen und gesellscha­ftlichen Nachteile nicht, lässt aber absehen, wie die türkis-blaue Regierung Sozialpoli­tik betreiben möchte: als Politik der Gefühle, die auf Fakten und wissenscha­ftliche Erkenntnis­se einfach pfeift.

Die „Sozialschm­arotzer“sollen leiden, liegen sie uns Leistungst­rägern doch mit Absicht auf den Taschen. Dass jede individuel­le Armut zahlreiche Gründe hat (Jobverlust, der keineswegs in der Mehrzahl selbstvers­chuldet ist, Krankheite­n und privates Unglück), ist egal: Feindbilde­r müssen her, möglichst solche, die zu schwach sind, um sich zu wehren.

Damit legitimier­t die Regierung jenes empörende Verhalten, das viele Behörden gegenüber Ar- mutsbetrof­fenen an den Tag legen: So wie wir es aus den Bezirksger­ichten kennen, bei denen nicht anwaltlich vertretene Parteien gern als lästiges Ärgernis und daher als schuldig betrachtet werden, kommen nun auch arme Menschen in Österreich immer häufiger nur dann zu ihrem Recht, wenn sie sich von einer NGO begleiten lassen. Kommen die Betroffene­n hingegen allein, versucht man, sie loszuwerde­n, informiert sie lückenhaft – und das in einem Ton, der jeden Respekt vermissen lässt und sie zu Almosenemp­fängern degradiert.

Nun wird es auch offizielle Politik, nach jenen zu treten, die schon auf dem Boden liegen, und ihnen ihre Würde und ihre letzte Habe zu nehmen: das ererbte Häuschen oder das Sparbuch, mit dem sie das Auto reparieren lassen oder auch den Kindern einmal ein Geschenk machen konnten – mit jenem Geld, das sie einmal mit den eigenen Händen erarbeitet haben.

ANNA DAWID ist Armutsfors­cherin und hat 2005 und 2015 in Zusammenar­beit mit der Österreich­ischen Armutskonf­erenz und dem Institut für Sozialpoli­tik der WU Wien Forschungs­projekte zu Leistungen der NGOs in der Armutspräv­ention und -bekämpfung durchgefüh­rt.

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