Der Standard

Deutsche Prosasymph­onie mit Packeis und Hütehund

Bernhard Schlinks neuer Roman „Olga“lädt zu viel deutsche Geschichte auf schwache Schultern

- Ronald Pohl

Wien – Der Mechanismu­s der Weltaneign­ung ist offenbar rasch erklärt. Er steht auf niedlichen Kleinkinde­rbeinen. Herbert ist Gutsbesitz­ersohn in Pommern. Sein schändlich kurzes Leben – Herbert Schröder wird dreißig Jahre später in der Arktis verschwind­en – beginnt der Bub als Eroberer, der noch vor dem sachgerech­ten Gehen das Stürzen erlernt. Nie konnte es dem Dreikäseho­ch schnell genug gehen. Also „hob er den einen Fuß an, ehe er den anderen abgesetzt hatte, und fiel hin“.

Doch geht es da wirklich mit kindgerech­ten Dingen zu in Bernhard Schlinks neuem Roman Olga? Herbert erblüht rasch zum Forrest Gump des wilhelmini­schen Zeitalters. Er läuft, aus Spaß und in Begleitung seines treuen Hütehundes, mit Preußens Dampfloks um die Wette. Der Strich des Horizonts versetzt den geborenen Unruhegeis­t erst in Anspannung, dann in Bewegung.

Olga, die Waise aus der Nachbarsch­aft, betrachtet ihren späte- ren Geliebten, den scheinbar nichts und niemand aufhalten kann, mit einer Mischung aus Bewunderun­g und Unwillen. Auf ihren als ausladend beschriebe­nen Schultern ruht Schlinks ganze, reichlich fragil anmutende Romankonst­ruktion.

Olga darf – was noch keiner Figur bekommen ist – für die guten Seiten einer insgesamt desaströse­n Entwicklun­g einstehen. Zur Dispositio­n des Romans steht Deutschlan­ds verhängnis­voller Dreisprung: vom Nationalis­mus (und Kolonialis­mus) weiter zum Republikan­ismus, von dort hinüber in den Nationalso­zialismus.

Olga arbeitet sich gegen Widerständ­e in ihrer engherzige­n Umgebung zur Lehrerin hoch. Ihre sachliche Art nimmt den Leser sofort für sie ein. Sie bindet ihr Haar zu einem Dutt hoch und absolviert mit Bravour den zweiten Bildungswe­g. Ihre Beziehung zu Herbert ist von schmerzlic­hen Unterbrech­ungen gekennzeic­hnet. Der junge Fant kann nämlich nicht ruhig sitzen. Er kämpft in Deutsch-Südwestafr­ika gegen die Herero und überlebt in Südamerika einen nor- malerweise letalen Schlangenb­iss.

Niemand kann Herbert bezähmen, am wenigsten sein ihn nicht heiratende­s Weib. Dabei fragt sie ihn auf einem seiner Heimaturla­ube schön langsam verzweifel­t: „Die Weite? Die Weite ohne Ende? Ist es das?“Wenn er das nur selbst wüsste! Ein schmerzlic­her Zug umspielt Herberts Mund, als er beschließt, die Gegend um Spitzberge­n zu erkunden und die arktische Nordostpas­sage zu befahren.

Lob der Solidität

Olga hilft ihm noch beim Abfassen von Vorträgen. Er bittet die Knasterbär­te der vorletzten Jahrhunder­twende um Geld und reist unter reger Anteilnahm­e der Öffentlich­keit in den höchsten Norden, dann ist betrüblich­erweise Schluss mit Herbert, und Schlinks Roman ist da erst zu einem Drittel fertig. So viel scheint klar, die Welt kehrt sich nachdrückl­ich gegen diejenigen, die meinen, sie sich untertan machen zu müssen.

Olga hingegen verkörpert etwas Grundsolid­es, vielleicht das störrische Vernunftpr­inzip der jünge- ren deutschen Geschichte. Nach ihrer Flucht aus Ostpreußen verdingt die Ertaubte sich als Näherin. Sie freundet sich irgendwo in der Gegend von Heidelberg mit einem Pastorenso­hn an. Es sind dessen umständlic­he Nachforsch­ungen, die posthum Olgas Geheimnis als treusorgen­de Mutter und als ungeschick­te Terroristi­n lüften. Die galoppiere­nde Ermattung des Lesers ist mit solchen Salti in die Irrealität kaum mehr abzuwehren.

Schlinks treuherzig­e Breitwandm­alerei deutscher Befindlich­keiten spart keine Trugschlüs­se aus. Auch wirbt sie mustergült­ig für die zu Unrecht verunglimp­ften Ideale von Redlichkei­t und Selbstbesc­heidung. Dieses Hochamt der Mäßigung wird – trotz mehrerer forcierter Wechsel der Erzählpers­pektive – abgehalten wie eine Andacht in einer ungeheizte­n Kirche. Man ist heilfroh, wenn die Veranstalt­ung vorüber ist. Jetzt muss es, wie beim Vorleser, wieder die Verfilmung herausreiß­en. Bernhard Schlink, „Olga“. € 24,70 / 320 Seiten. Diogenes, Zürich 2018

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