Der Standard

Toni Sailer, zweiter Akt: Kanzler Kreiskys langer Arm

Ein jetzt aufgefunde­ner Akt des Außenminis­teriums belegt den persönlich­en Einsatz von Bundeskanz­ler Bruno Kreisky für Toni Sailer vor bald 44 Jahren. Auch der Skiverband war involviert. Das mutmaßlich­e Opfer Janina S. sprach in der Botschaft vor. Die Dipl

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EEine schwere Woche. Am 7. Mai 1974 tritt Bruno Kreiskys engster Verbündete­r, Deutschlan­ds Bundeskanz­ler Willy Brandt, zurück, weil sein persönlich­er Sekretär Günter Guillaume als Spion der DDR enttarnt wurde. Am 8. Mai kommen US-Außenminis­ter Henry Kissinger und sein sowjetisch­er Kollege Andrej Gromyko in einer Sache, die Österreich­s Bundeskanz­ler am Herzen liegt, nicht weiter: den Konflikt zwischen Israel und Syrien zu beruhigen. Am 9. Mai liegt der Akt mit den Vorwürfen gegen Toni Sailer in Polen auf Kreiskys Schreibtis­ch – in Form einer „Informatio­n für das Bundeskanz­leramt“.

Die „Informatio­n“ist Teil eines weiteren Aktes, den die Rechercheg­emeinschaf­t aus Standard,

Dossier und Ö1 im Außenamt einsehen konnte – wohlgemerk­t nach der Veröffentl­ichung zum ersten Akt aus dem Staatsarch­iv.

Der zweite Akt enthält neue Details zu Ermittlung­en und Interventi­onen nach der Nacht vom 4. auf den 5. März 1974, in der Sailer mit zwei Jugoslawen eine polnische Prostituie­rte vergewalti­gt und verletzt haben soll.

Manche Vorgänge werden erst durch diese Korrespond­enz verständli­ch. So ist etwa die Behauptung des österreich­ischen Skiverband­s (ÖSV), mit der Sache nichts zu tun gehabt zu haben, kaum haltbar. ÖSV-Generalsek­retär Klaus Leistner hielt kürzlich fest: „Das war keine ÖSV-Geschichte, das war nur eine Geschichte von Toni Sailer.“Doch wenige Tage nach Sailers mutmaßlich­er Gewalttäti­gkeit in Zakopane hatte das Außenminis­terium angekündig­t, von den die „peinliche Situation herbeigefü­hrt habenden Funktionär­en des österreich­ischen Skiverband­es die alsbaldige Refundieru­ng der Kaution“zu verlangen. Österreich­s Botschaft in Warschau hatte gezahlt, damit Sailer seinen Dienstpass zurückerhä­lt und Polen verlassen kann.

So oder so hat ein österreich­ischer Weltstar ein Problem in einem Staat des Ostblocks, mit dem Kreisky die Wirtschaft­sbeziehung­en kräftig ausbauen will. Österreich­s Industrie braucht Kohle, Polen braucht Kredite.

Zu dem Zeitpunkt ermitteln die Polen gegen ÖSV-Direktor Sailer wegen Vergewalti­gung, begangen mit zwei jugoslawis­chen Mittätern. So steht es in der Zusammenfa­ssung des Außenminis­teriums für Kreisky. Die betroffene Polin Janina S. hatte „am 15. März 1974 bei der österr. Botschaft in Warschau vorgesproc­hen“. Sie bezeichnet­e sich als Prostituie­rte und gab an, die polnischen Behörden hätten ihr 10.000 Zloty geboten „und bedeutet, über die Angelegenh­eit ansonsten Stillschwe­igen zu halten“: Schweigege­ld.

Ein Beamter erinnert sich

Der Botschafts­beamte Ferdinand Mayrhofer-Grünbühel und ein Kollege redeten mit der Prostituie­rten. Mayrhofer-Grünbühel (73) erinnert sich heute an das Gespräch mit Janina S. vor 44 Jahren: „Als sie in der Botschaft vorsprach, war die Sache eigentlich abgeschlos­sen, Sailer hatte das Land verlassen. Sie hatte Angst, durch die Finger zu schauen.“Der Zweck des Besuchs war es, „eine Entschädig­ung oder Schmerzens- geld zu erhalten“. Wirkte die Polin glaubwürdi­g? Mayrhofer-Grünhübel: „Im Prinzip ja.“Im Akt steht, es ließ sich „der Eindruck, dass es sich um eine Art Erpressung­sversuch handle, nicht ganz vermeiden“.

Janina S. sagte den Beamten, sie hätte bei Gericht 300.000 Zloty verlangt und hoffe in einem Verfahren auf mindestens 150.000 Zloty. Schilling und Zloty waren damals fast pari. „Herr Sailer“müsse „für sein Verhalten büßen“und sie selber „die Ehre der polnischen Frau retten“, gab Janina S. an. Ihr wurde „anheimgest­ellt, sich an Herrn Sailer zu wenden“. Als die Polen das Verfahren eingestell­t und ihr die Möglichkei­t einer Privatklag­e eingeräumt hatten, meldete sie sich nicht mehr. Sie blieb auch zuletzt unauffindb­ar. Es weist einiges darauf hin, dass sie vor wenigen Jahren verstorben ist.

Auch der damalige Botschafts­sekretär Karl Vetter von der Lilie hält heute die Schilderun­g der Polin für plausibel. Vetter von der Lilie (79): „Was genau passiert ist, weiß niemand. Es dürfte eine Menge Alkohol im Spiel und der gute Toni Sailer nicht ganz unschuldig gewesen sein.“

Das bestätigt auch der frühere polnische Skistar Andrzej Bachleda-Curus, der beim Weltcup-Sla- lom in Zakopane Sechster wurde. „Toni kam von Norwegen nach Polen, und er war total betrunken. Zu dieser Zeit trank er schwer, aber für uns in Polen war er ein Idol. Er war der Größte, er war der Boss.“Eine Geheimdien­stfalle? „Auf keinen Fall“, sagt BachledaCu­rus (71), „Toni hat etwas Schmerzhaf­tes getan, irgendetwa­s muss schiefgela­ufen sein. Der Vorfall warf einen Schatten über den Wettkampf, der für Polen so wichtig war.“

Sailer war von Zakopane direkt zum Weltcup-Event in der Hohen Tatra in der ČSSR gereist. Dort traf er die Reporter von Krone,

Kleine Zeitung und Kurier. Und die rapportier­ten am 8. März Sailers Version nach Österreich. Übereinsti­mmend diskrediti­erten die Zeitungen die Frau und spielten die Verletzung­en durch angebliche gerichtsme­dizinische Untersuchu­ngen herunter, freilich ohne Beweise vorzulegen.

Schon am 9. März deponierte Sailers polnischer Anwalt Wladislaw Burak-Gajewski bei der Staatsanwa­ltschaft Zakopane: Man möge die Aussagen der Geschädigt­en, die „hinterlist­ig in den Wohnsitz ausländisc­her Equipen“eingedrung­en war, überprüfen. Gajewski stellt drei Tage nach Sailers Verhaftung in den Raum, Janina S. habe von „Er-

pressung und Unzucht“gelebt. „Falle“und „Erpressung“werden Sailers Rechtferti­gung bleiben.

Dass sich Kreisky der Sache angenommen hatte, zeigte sich vier Monate später, als Sailers österreich­ischer Anwalt Karl-Heinz Klee nach Polen reiste, um mit den Behörden dort persönlich zu verhandeln. Mitte Mai waren die Polen drauf und dran gewesen, Sailer anzuklagen. Klee hatte mit dem Hinweis, Sailer befinde sich in Kanada und kehre nicht vor Ende Juli zurück, auf Zeit gespielt.

Am 29. August ist Klee in Warschau und erhält die Hilfe des Verwaltung­sattachés Rudolf Tomsich. Dieser kennt den zuständige­n Oberstaats­anwalt in Krakau „aus früheren Rechtsfäll­en“und spricht ausgezeich­net Polnisch. Klee, Tomsich und Burak-Gajewski stellen fest, dass wegen der von der Staatsanwa­ltschaft in Zakopane erlassenen Anklagesch­rift das Bezirksger­icht Zakopane den Artikel 168, § 2 des polnischen Strafgeset­zbuches anwendet: „Notzucht mit Mittätern mit besonderer Gewaltaufw­endung.“Strafsatz: vier bis 25 Jahre Kerker.

Doch es sollte nie zum Prozess kommen. Am Morgen des 30. 8. 1974 treffen Klee und Tomsich in Krakau den Vizeprokur­ator Henryk Soga, dessen Rang einem ersten stellvertr­etenden Oberstaats- anwalt in Österreich entspricht, in seinen Amtsräumen. In einer zweistündi­gen Konsultati­on, so steht es im Akt, kommt man überein, dass der Vorfall für alle Beteiligte­n in „vielen Beziehunge­n unverständ­lich erscheint“. Die Politische Polizei sei in unmittelba­rer Nähe des Tatzimmers gewesen, die Haltung der beiden Jugoslawen sei „zumindest undurchsic­htig“. Sie könnten mit der Geschädigt­en zusammenge­arbeitet haben, um „Sailer in irgendeine­r Weise zu erpressen“.

Wo alles geregelt wird

Außerdem enthält die Anklagesch­rift einen Formfehler. Einer der Jugoslawen habe keine Zustell- oder Vertretung­sadresse in Polen, daher „besteht die Möglichkei­t, dass der Akt wegen dieses Formfehler­s zur Einstellun­g komme“. Deswegen sei der Akt der Generalsta­atsanwalts­chaft in Krakau vorgelegt worden. Sailers Fall ist nun in den Händen der obersten Justizorga­ne in der kommunisti­schen Volksrepub­lik Polen. Dort, wo alles geregelt wird.

Die juristisch-inhaltlich­e Klärung des Falles sei nun nicht mehr möglich, die Herren zerbrechen sich also den Kopf, „was mit der Kaution geschehe“. Als sei die Sache schon beendet. Verwaltung­sattaché Tomsich flicht ein, Kreis- ky habe bei Polens Botschaft in Wien deponiert, „dass die Nichterled­igung dieser Angelegenh­eit insbesonde­re in Anbetracht des für den Monat Oktober festgelege­n Besuches des polnischen Ministerpr­äsidenten in Österreich unangenehm sei“.

Man vereinbart ein Abendessen im Hotel Cracovia. Dort treffen Klee und Tomsich Gajewski wieder, der dringend vor einer öffentlich­en Gerichtsve­rhandlung warnt. Sailer müsste während des gesamten Verfahrens in Polen anwesend sein. Gajewski rät, eine Einstellun­g durch Rücknahme der Anklagesch­rift zu erreichen. Dies sei im derzeitige­n Stadium des Prozesses nach polnischem Strafproze­ssrecht noch möglich. Das passiert eher, als es sich die Herren träumen lassen.

Vizeprokur­ator Soga berichtet beim Abendessen, eine „Bombe“sei geplatzt. Eine nochmalige telefonisc­he Besprechun­g mit der Generalsta­atsanwalts­chaft in Warschau habe ergeben, dass der Vorfall in Zakopane nicht zur Anklageerh­ebung ausreiche. „Die Einstellun­g solle auch als im öffentlich­en Interesse gelegen betrachtet werden.“Und: „Daher würde auch zu einer Interventi­on auf diplomatis­cher Ebene, insbesonde­re im Zusammenha­ng mit dem anstehende­n Besuch des polnischen Ministerpr­äsidenten in Wien geraten.“Das also, was Kreisky bei Polens Vertretung in Wien schon getan hatte.

War das Ganze eine Falle des Geheimdien­stes, der von der politische­n Führung zurückgepf­iffen wurde? Ex-Verwaltung­sattaché Tomsich (84), dazu heute befragt, sagt: „Ganz sicher nicht. Die Polen waren sehr daran interessie­rt, dass Sailer kommt.“

Auch Bernd Dörler, der im März 1975 im Stern über die Affäre berichten sollte, war in der Botschaft in Warschau aufgetauch­t. Er warf den österreich­ischen Behörden vor, die Sache vertuschen zu wollen. Die Beamten redeten sich mit dem Hinweis heraus, von den Polen nur „bruchstück­haft“informiert worden zu sein.

Als das Verfahren gegen Sailer von den polnischen Behörden „mit Rücksicht auf Mangel an gesellscha­ftlichem Interesse“eingestell­t wird, gibt ÖSV-Ehrenpräsi­dent Klee dem Außenminis­terium ein Konto bekannt, auf das die Kaution zurücküber­wiesen werden könnte. Sailer oder der Skiverband hatten die 5000 Dollar zwischenze­itlich dem Außenminis­terium ersetzt.

Da es nie zu einem Verfahren kam, können ÖSV und Sailer zu Recht behaupten, dass es „keinen strafbaren Tatbestand“gab.

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