Codename: Karl, Titel: Herr
Die Republik Österreich hat sich während der 100 Jahre ihres nicht ganz durchgängigen Bestehens mit Zähigkeit, etwas Schmäh und viel Geschmeidigkeit den Herausforderungen gestellt. Ein Lexikon erinnert an Finten und Fanale.
Alpinsport: Nach innen profitiert die Republik Österreich von der weisen Umsicht, mit der Politiker und Sozialpartner ihre Geschicke lenken. Für die Ausstrahlung der Alpenrepublik nach außen aber zeichnet der Österreichische Skiverband (ÖSV) verantwortlich. Bereits in der Ersten Republik widerlegten findige Alpinisten das finstere Bonmot Erich Kästners, wonach Skifahren eine Fortbewegungsart lediglich für „finnische Landbriefträger“sei. Die Weltgeltung unserer Skiheldinnen und Skihelden reicht weit in die benachbarten Alpentäler.
B Coulevard: Viele Bewohner der Republik Österreich meinen, sich desto besser zu erkennen, je volkstümlicher der Spiegel ist, den sie sich von den Medien vorhalten lassen.
órdoba: Ein einziges Spiel der Fußball-WM von 1978 reichte aus, das Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber unseren bundesdeutschen Nachbarn in hemmungslose Genugtuung zu verwandeln. Die Bemerkung von Radiolegende Edi Finger, Hans Krankls Tor zum 3:2 würde ihn schier um den Verstand bringen, kennzeichnet gut die sozialpsychologische Wirkung des als unwiederholbar geltenden Wunders.
Deutschösterreich: Die mehrheitlich deutsch besiedelten Gebiete der habsburgischen Kronländer wurden aufgrund eines Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung am 11. November zur „deutschösterreichischen Republik“erklärt. Der Anspruch, Teil der „Deutschen Republik“zu sein, musste wegen des Vertrags von SaintGermain 1919 fallengelassen werden. Nicht alle Österreicher empfanden über den Wegfall des Präfixes „Deutsch-“Genugtuung.
Erzherzog: Republikanische Massenversammlungen fanden nach 1918 mit schöner Regelmäßigkeit, aber auch zu unerfreulichen Anlässen am Wiener Heldenplatz statt. Als inoffizieller Beschützer aller Kundgebungsteilnehmer fungiert seit 1860 das bronzene Reiterdenkmal von Erzherzog Carl, dem Sieger von Aspern. Er lauschte 1938 dem „hünig sprenken stimmstummel“(so Ernst Jandl in seinem Gedicht Heldenplatz) von Adolf Hitler.
Fristenlösung: Die straffrei gestellte Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs, 1973 von der SPÖ-Alleinregierung gegen starken Widerstand beschlossen, markiert einen wichtigen Schritt hin zur Selbstbestimmung der österreichischen Frauen.
Gemeindebau: Der kommunale Sozialwohnbau ist eine Errungenschaft der Ersten Republik. In ihm vereinte man in Wien, aber auch in Linz-Urfahr, Salzburg-Lehen oder Graz (Triester Siedlung) die äußeren Vorzüge einer selbstbewussten, weil klobigen Formgebung mit den inwendigen einer modernen Unterbringung von schwer arbeitenden Menschen. Während des Februaraufstands 1934 wurden Gemeindebauten vom sozialdemokratischen Schutzbund gegen die militärische Übermacht der Ständestaatdiktatur verteidigt.
Heldenplatz: Seine großzügige Anlage im Herzen Wiens wird ausgerechnet im Jubiläumsjahr 2018 von diversen Containern voller Parlamentarier beeinträchtigt. Kontemplative Menschen können gelegentlich UHBP Alexander Van der Bellen beim Ausführen des ersten Hundes im Staat bewundern. Thomas Bernhards gleichnamiges Stück erregte anlässlich seiner Uraufführung 1988 im Wiener Burgtheater das Gemüt nicht nur des amtierenden Vizekanzlers.
Industrie: Die Hege und Pflege des staatswirtschaftlichen Sektors in Österreich betraf nach 1946 das Bankwesen, noch mehr aber die Stahl- und Grundstoffindustrie. Das Gedeihen der Letzteren wurde während vieler Jahrzehnte zum wichtigsten Indikator heimischer Prosperität. „Schlüsselbetriebe“fürchtete man allein schon wegen der Missachtung, mit der ihre Betriebsräte jeden Gedanken an modischen Fortschritt von sich wiesen.
Justizpalastbrand: Die kollektive Unmutsäußerung über das skandalöse Gerichtsurteil von Schattendorf mündete am 15. Juli 1927 in ein Blutbad mit 94 Toten, in der überwiegenden Mehrzahl unbewaffnete Demonstranten. Es war Karl Kraus, Herausgeber der Fackel, der daraufhin den bürgerlichen Polizeipräsidenten Johann Schober als Verantwortlichen des Exekutiveinsatzes via Plakat zum Rücktritt aufforderte.
KLruckenkreuz: Das Krucken- oder „Hammerkreuz“gehörte zu den Einführungen, mit denen die austrofaschistische „Vaterländische Front“von 1934 bis 1938 auch grafisch ihre Eigenständigkeit gegenüber HitlerDeutschland unter Beweis stellte.
ucona: Der gleichnamige Frachter lief, mit einer Aufbereitungsanlage für Uranerz beladen, nach einer Explosion 1977 im Indischen Ozean auf Grund. Der findige Ex-Hofzuckerbäcker Udo Proksch hatte die Havarie des Schiffs planmäßig herbeigeführt. Sechs Menschen kamen bei dem Unglück ums Leben. Bei der Klärung der politischen Verantwortung wurde ein bis in die Spitzen des Staates reichendes Netz von Proksch-Sympathisanten aufgedeckt.
Masse: Soziale Verdichtungsphänomene besaßen in Zeitzeugen wie Elias Canetti aufmerksame Beobachter. Der Schrei der Masse drang dem späteren Literaturnobelpreisträger angeblich aus Anlass eines Rapid-Heimspiels in die Ohren. Österreichs Schockerfahrung von 1918 bestand in der Verkleinerung über Nacht. Ab dann grübelten heimische Intellektuelle eingehend über die Krise der Repräsentation nach.
Nächtigungszahlen: Trotz Euro besteht die alleingültige Landeswährung in der jährlichen Nächtigungszahl. Aus ihrer Kurssteigerung schöpfen die Österreicher Zuversicht. Jahr für Jahr nächtigen mehr Gäste. Noch in den 1970ern lockten besonders abgelegene Pensionen mit der freundlichen Inaussichtstellung von „Fließwasser“.
Olympia: An der Zahl errungener Winterspielmedaillen soll sich das heimische Selbstbewusstsein laben. Besonders wund reagiert die „österreichische Seele“(Erwin Ringel) auf den Ausschluss eines möglichen „Medaillenanwärters“von Olympia. Karl Schranz widerfuhr eine derartige Schmach 1972. Prompt wurde ihm auf dem Wiener Ballhausplatz von den Massen gehuldigt.
Prälat: Einer der wichtigsten Politiker der Ersten Republik war Priester. Ignaz Seipel leitete diverse Regierungen in den 1920ern. Er diente als christlichsozialer Verbindungsmann zu den Deutschnationalen. Als Krebsübel galt ihm die „Parteiherrschaft“. Als „Prälat ohne Milde“geißelten ihn die Sozialdemokraten, als er für die Opfer der Unruhen von 1927 keine Empathie erübrigte.
Quasi: Die Wirkung des unerreicht gebliebenen Österreicher-Darstellers Helmut Qualtinger (1928–1986) beruht auf der Offenlegung der Wundstellen, die das Ösi-Ego jucken. Qualtinger („Quasi“) erwies triumphal die Fähigkeit des Österreichers, sich jeweils nach Erfordernis nach allen Seiten zu verbiegen und dennoch ganz bei sich zu sein. Der Codename dafür: „Herr Karl“.
Rapid: Der mit Abstand populärste heimische Fußballklub ist in WienHütteldorf beheimatet. Die religiöse Inbrunst, mit der ihn Massen von Fußballfreunden verehren, paart sich mit der sportlichen Besinnung auf proletarisch konnotierte Tugenden wie Fleiß, Aufopferung, Verbissenheit. Nicht verschwiegen seien die Auswüchse einer „Fan-Kultur“, die mit Fanatismus wettzumachen sucht, was ihr an internationalem Format fehlt.
Sozialpartner: Die heimische Gepflogenheit, die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Wege partnerschaftlicher Verhandlungen miteinander abzugleichen, galt lange als vorbildlicher Weg zur Konfliktbereinigung. Dieser Tage scheint das Modell der Konfliktentschärfung aus der Mode. Man rührt am Gebot der Pflichtmitgliedschaft in den Interessenverbänden. Die Bereitschaft, Kompromisse anzubahnen, verdankt sich den Erfahrungen in der Ersten Republik.
Tourismus: Geht es den Hotelpächtern in Westösterreich gut, geht es allen gut. Leider wollen viel zu wenige Köche frischen Kaiserschmarren aus den Tiroler Pfannen kratzen.
Ungargassenland: Hinter diesem geheimnisvoll tönenden Wortgebilde verbirgt sich die Stadtlandschaft, die Ingeborg Bachmann in ihrem Roman Malina beschrieb. Bachmann bewohnte die Gegend im dritten Wiener Gemeindebezirk von 1946 bis 1953. Hinter den sachlich anmutenden Straßenzügen lauert die finstere Übermacht von Männern mit gestriger Gesinnung.
V Wollbeschäftigung: Die Erfahrung der Massenarbeitslosigkeit in den 1930er-Jahren riss Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ) zu der Bemerkung hin, ein paar Milliarden Schilling Staatsschulden würden ihm weniger schlaflose Nächte bereiten als ein paar Hunderttausend Arbeitslose.
underteam: Mit der Perfektionierung des „Scheiberlspiels“, des trickreichen Wechsels von kurzen Pässen, gelang der heimischen Fußballnationalmannschaft Anfang der 1930er eine beispiellose Siegesserie gegen übermächtige Gegner. Der „Schmäh“wurde fortan zur spezifisch österreichischen Form der Wirklichkeitsbewältigung. Wenn man auch keine Chance hat: Ein bisschen was geht dennoch.
X: „X“wie „Unentschieden“meint nicht nur im Fußballsport die (zumeist gerechte) Punkteteilung. Der heimischen Equipe gelang bei der Fußball-WM 1982 das Kunststück, mit der Bundesrepublik Deutschland einen informell wirksamen „Nichtangriffspakt“zu schließen. Die Heimischen verloren knapp und waren dadurch, so wie der Gegner, eine Runde weiter. Die „Schande“von Gijon wirkte wie ein Unentschieden, bedeutete sportlich einen Sieg und war moralisch eine Niederlage.
Ybbs-Persenbeug: Das Anzapfen von Wasseradern wie der Donau zur Gewinnung „sauberen“Stroms gehört zu den Beweisen, dass ein kleines Land wie Österreich – arm an Bodenschätzen, reich an Gehirnschmalz – energiepolitisch auf eigenen Beinen stehen kann.
Zwentendorf: Die Absage an die Segnungen des Atomstroms erwies zum ersten Mal die plebiszitäre Macht des heimischen Staatsvolks.