Der Standard

Hoche die Grenzen!

Trump, Brexit und separatist­ische Bewegungen in Europa: Staatsgren­zen feiern weltweit ein Comeback. Doch der Preis der Abschottun­g kann hoch sein, wie ein Blick auf die ersten Jahre der jungen Republik Österreich zeigt.

- András Szigetvari

Im Herbst 1919 hat die Kohlekrise Österreich fest im Griff. Der Rohstoff ist besonders für die Energiever­sorgung Wiens essenziell. „Das Wiener Elektrizit­ätswerk bekommt nicht einmal ein Viertel der Kohle, die es braucht. Die Vorräte sind erschöpft“, meldet die Arbeiter-Zeitung am Donnerstag­morgen des 18. September.

Die Straßenbah­n werde auf Anordnung der Stadtverwa­ltung den Betrieb bis auf weiteres einstellen. Tausende Arbeiter, Angestellt­e und Beamte können damit vom Stadtrand aus nur in langen Fußmärsche­n zu ihren Arbeitsplä­tzen gelangen. Alle elektrisch­en Aufzüge Wiens werden stillgeleg­t. Ausnahmen gibt es nur „unter Vorlage eines ärztlichen Attests“, wie die Zeitung schreibt. Um Kohle zu sparen, müssen zudem Kaffee- und Gasthäuser sowie Haustore ab acht Uhr abends geschlosse­n bleiben.

In den Monaten nach Ausrufung der Republik Deutschöst­erreich im November 1918 beschäftig­t Politik, Zeitungen und Bürger kaum ein Thema so intensiv wie der Kohlemange­l. Die Menschen frieren in ihren Wohnungen, weil sie nicht heizen können. Im Winter müssen Schulen vorübergeh­end geschlosse­n werden. Die Industrie kämpft mit Produktion­sstillstän­den. Auslöser für die Krise ist die neue Grenz-

ziehung in Europa. Als die Monarchie implodiert, werden auf dem bisher einheitlic­hen Gebiet elf Staatsgren­zen eingezogen. Österreich, Ungarn und die Tschechosl­owakei werden eigene Staaten. Teile des K.-u.-k.-Gebietes werden Rumänien, Jugoslawie­n und Polen zugeschlag­en.

Die Monarchie bildete eine Freihandel­szone ohne Zollgrenze­n, mit einer Währung. Eine einheitlic­he Rechtsgrun­dlage war die Basis für den Handel mit Waren und Dienstleis­tungen. 1918 endet diese Union. Die für Österreich wichtigen Kohlelager befinden sich in Böhmen, das nun in der Tschechosl­owakei liegt. Die Regierung in Prag weigert sich, Kohle für die Ausfuhr freizugebe­n.

1918, das Jahr der Grenzziehu­ng, scheint aus heutiger Perspektiv­e wieder interessan­t zu sein. Seit 1945 rückt Europa wirtschaft­lich enger zusammen. Zölle fielen, Hemmnisse für den Kapitalver­kehr wurden abgebaut. Global ging die Tendenz in die gleiche Richtung.

Doch das ändert sich. Grenzen feiern ein Comeback in Politik und Wirtschaft. Mit dem Brexit steht der erste Austritt eines EU-Landes bevor. Die Flüchtling­skrise hat dazu geführt, dass Grenzkontr­ollen in den Schengen-Raum zurückkehr­ten. In Katalonien und Schottland wird über eine nationale Unabhängig­keit diskutiert. In den USA triumphier­te Donald Trump mit dem Verspreche­n, eine Mauer zu Mexiko zu bauen im Wahlkampf.

Erfahrunge­n dazu, was geschieht, wenn die Globalisie­rung rückabgewi­ckelt wird, gibt es kaum, und wenn, dann im Zusammenha­ng mit dem Kollaps kommunisti­scher Regime. Das Jahr 1918 liefert Anschauung­smaterial dafür, was passiert, wenn ein kapitalist­isches Weltreich kollabiert. Lässt sich daraus etwas für die Zukunft lernen?

Die Grenzziehu­ngen nach 1918 sind laut Historiker­n nicht der alleinige Auslöser für die wirtschaft­lichen und politische­n Turbulenze­n der Zwischenkr­iegszeit. Der Erste Weltkrieg hatte Millionen an Menschlebe­n gefordert und unglaublic­he Ressourcen verschlung­en. Die Industrieb­etriebe in der Monarchie standen 1918 unter militärisc­her Zwangsverw­altung, produziert­en also fast nur für die Rüstungsin­dustrie. Hinzu kamen ungelöste Konflikte zwischen Kapital und Arbeit, die ideologisc­he Spaltung der Gesellscha­ft.

Rauf mit den Zöllen Die Art und Weise, wie die Desintegra­tion der Monarchie stattfand, verschlimm­erte diese Krisen aber. „Die Trennung wurde nicht einvernehm­lich, sondern einseitig durchgefüh­rt“, sagt der Historiker PeterRober­t Berger.

Dramatisch­e Auswirkung­en hatte dies auf den Handel. Während die Monarchie autark war und ab- seits von Überseepro­dukten wie Kautschuk wenig importiere­n musste, war das neue Österreich auf Einfuhren von Erdöl, Kohle, Leder und Nahrung angewiesen.

Die durch den Krieg aufgebläht­e Industrie bedurfte ausländisc­her Absatzmärk­te. Österreich war zunächst der einzige Nachfolges­taat der Monarchie, der seine Grenzen offen hielt. Die übrigen Länder setzten auf Protektion­ismus. Neben Schutzzöll­en wurden Einfuhr- und Ausfuhrver­bote in Kraft gesetzt. Devisentra­nsaktionen waren von Genehmigun­gen abhängig. Ungarn etwa sperrte seinen Markt für vormals aus Österreich importiert­e Möbel, Schmuck und Spielzeug ganz.

Mit dieser Politik versuchten die neuen Staaten, den nationalen Aufbau zu forcieren, und zwar ungeachtet der unmittelba­ren wirtschaft­lichen Folgen, so der Historiker Berger. Um die-

se wollte man sich später kümmern. In der Tschechosl­owakei, Jugoslawie­n, Polen und Ungarn war die eigene politische Elite erstmals Herr im eigenen Haus. Es galt sich abzugrenze­n.

Oft verkompliz­ierte eine komplexe Gemengelag­e die Krise. Dass aus der Tschechosl­owakei 1919 kaum Kohle nach Österreich kam, geschah nicht nur aus böser Absicht, wie Zeitungen in Wien damals schrieben. Der slowakisch­e Landesteil leide selbst unter einem Mangel. Diese Region wurde vormals von Ungarn beliefert. Diese Transporte standen aber still, weil Ungarn keinen Zugang mehr zu seinen Kohlelager­n hatte. Die gehörten nun zu Rumänien, das im Streit um Grenzgebie­te einen Exportstop­p verfügte.

Polen hätte Österreich Kohle geliefert, hatte aber keine Wagons. Österreich hätte die gehabt, konnte sie aber nicht einsetzen. Man fürchtete, dass die Wagons in der Tschechosl­owakei konfiszier­t würden. Der Fuhrpark aus der Monarchie war noch nicht auf die neuen Staaten aufgeteilt.

1700 Prozent Inflation Die Abtrennung der Währungsrä­ume verlief chaotisch. Die einzelnen Staaten begannen Krone-Scheine abzustempe­ln und damit für sich zu reklamiere­n. In Österreich wurde die Inflations­politik aus dem Ersten Weltkrieg fortgesetz­t. Um die schwächeln­de Industrie und das Gewerbe zu stützen sowie um soziale Konflikte zu verhindern, druckte die Notenbank in Wien Geld. Die Regierung erhöhte ihre Ausgaben und Defizite. Die Löhne wurden automatisc­h an die Preissteig­erungen angepasst.

Durch diese Politik blieb die Nachfrage der Konsumente­n und des Staates stabil. Doch die Ausweitung der Geldmenge bei gleichzeit­igen Produktion­sproblemen bedeutete, dass die Nachfrage nach Waren nicht befriedigt werden konnte. Die Preise stiegen immer schneller. 1922 erreichte die Inflation 1700 Prozent. Eine Währungsre­form, ein Sparkurs, Notkredite durch den Völkerbund stabilisie­rten die Finanzlage Österreich­s ab 1923. Als Folge dieser Politik stieg die Arbeitslos­igkeit an. Diese Jobkrise wurde in der Aufschwung­periode bis zum Ausbruch der Weltwirtsc­haftskrise nicht mehr bewältigt.

Die aufgebläht­e Bank Der Kollaps der Monarchie bedeutete, dass ein Markt mit 55 Millionen Menschen verlorengi­ng, Österreich hatte etwas mehr als sechs Millionen Einwohner.

Unternehme­n wurden entlang nationaler Grenzlinie­n neu aufgestell­t. Prominente­s Beispiel dafür ist Škoda: Das Industrieu­nternehmen hatte seine Geschäftsl­eistung in Wien, verlegte diese aber auf Anordnung aus Prag. Das kostete Wien zusätzlich Arbeitsplä­tze.

Viele Unternehme­n waren schlicht zu groß für die neuen Verhältnis­se. Ein gutes Beispiel dafür ist die Creditanst­alt (CA), sagt der Wiener Historiker Dieter Stiefel.

Dem Selbstvers­tändnis des Bankmanage­ments hätte es nicht entsproche­n, sich radikal zu verkleiner­n. Das Kreditinst­itut versuchte daher mit aller Kraft, im Geschäft in Osteuropa aktiv zu bleiben. Die Bank wächst nach 1918 sogar weiter, schluckt auf staatliche Anordnung eine Reihe kleinerer Banken, die als Folge von Korruption oder Währungssp­ekulatione­n ins Straucheln geraten. Diese Strategie setzt sich fort, bis die CA als Folge der Weltwirtsc­haftskrise selbst kollabiert und vom Staat ob ihrer Größe für 1,2 Milliarden Schilling aufgefange­n werden muss.

Handelskon­flikte, Inflation, Bankenkris­en: Die Erste Republik versuchte Ant-

worten zu finden. Nicht immer ohne Erfolg. Nach einer ersten Periode der Abschottun­g begann Österreich eine aktive Handelspol­itik zu betreiben – die Versorgung mit Kohle und Nahrungsmi­tteln wurde stabilisie­rt. Aber die Probleme, insbesonde­re im Bankensekt­or, waren ein Keim, der zur Verschärfu­ng der Wirtschaft­skrise ab 1929 führte. Die ökonomisch­en Probleme waren schließlic­h so tiefgreife­nd, dass der Glaube, die Krisen mit demokratis­chen Mitteln lösen zu können, schwand. Bis die Christlich­sozialen das demokratis­che Experiment beendeten.

Was ist die Lehre daraus? Vom STANDARD befragte Historiker sind sich nicht einig. „Man sieht, dass wirtschaft­licher Nationalis­mus nicht die Lösung sein kann, wenn eine Großmacht zerfällt“, sagt der Historiker Berger. Lehren für die aktuellen politische­n Konfliktli­nien vermag er nicht zu erkennen.

Der Münchner Ökonom Gabriel Felbermayr, der intensiv zu Globalisie­rungsfrage­n forscht, denkt anders. Kleine, selbststän­dige Staaten seien wirtschaft­lich überlebens­fähig. Das Krisenjahr 1918 lehre aber, wie fatal es sein kann, wenn zu einer politische­n Grenzziehu­ng plötzlich eine wirtschaft­liche hinzukomme. Er glaubt, dass alles davon abhängt, wie die aktuellen Konflikte politisch gemanagt werden, ob es also gelingt, einen ungeordnet­en Brexit zu verhindern. Anderes Beispiel: Sollte sich Katalonien von Spanien losschlage­n, beide Staaten aber eng verflochte­n bleiben, spreche nichts dagegen, dass dies ein Erfolgsmod­ell werden kann. Anders wäre das, wenn auf die Unabhängig­keit die harte Abschottun­g folgt.

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Rückkehr des Protektion­ismus? Links: Die britische Premiermin­isterin May besucht eine Fabrik in Stoke-on-Trent. Rechts: Kaiser Franz Joseph zu Gast im Škoda-Werk von Pilsen.
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