Der Standard

Im Ozean der Zeit

Die Verzichtse­rklärung Kaiser Karls von Österreich besiegelte im November 1918 das Ende der Monarchie. 2018, das Jahr der großen Gedenken, zeitigt zahlreiche Publikatio­nen. Erlesene Würdigunge­n dekuvriere­n aber auch Fehler und vergebene Chancen.

- Gregor Auenhammer

Wir hatten alle alles verloren. Wir hatten alle Stand und Rang und Namen, Haus und Geld und Wert verloren, Vergangenh­eit, Gegenwart, Zukunft. Jeden Morgen, wenn wir erwachten, jede Nacht, wenn wir uns schlafen legten, fluchten wir dem Tod, der uns zu seinem gewaltigen Fest vergeblich gelockt hatte. (…) Wir gewöhnten uns an das Ungewöhnli­che. Es war ein hastiges Sich-Gewöhnen. Gleichsam ohne es zu wissen, beeilten wir uns mit der Anpassung, wir liefen geradezu Erscheinun­gen nach, die wir hassten und verabscheu­ten“, schrieb der große Joseph Roth anno 1938, kurz vor seinem tragischen Tod, in seinem Roman Die Kapuzinerg­ruft über die Dekade nach dem Ersten Weltkrieg, nach 1918, nach dem Ende einer trauten Hegemonie eines reichen und mächtigen Vielvölker­staates, nach dem Untergang der Doppelmona­rchie Österreich-Ungarn. „Wir begannen unsern Jammer sogar zu lieben, wie man treue Feinde liebt. Wir vergruben uns geradezu in ihn. Wir waren ihm dankbar, weil er unsere kleinen besonderen persönlich­en Kümmerniss­e verschlang, (...) dem gegenüber zwar kein Trost standhalte­n konnte, aber auch keine unserer täglichen Sorgen. (...) dass es in der menschlich­en Natur gelegen ist, das gewaltige, alles verzehrend­e Unheil dem besonderen Kummer vorzuziehe­n.“

Hoffnungsl­os, aber nicht ernst

Die in seiner atmosphäri­schen Dichte, seiner sprachlich­en Klarheit, von politische­r Prophetie und gesellscha­ftlich analytisch­er Schärfe geprägten Schriften Joseph Roths sind auch abseits der literarisc­hen Qualität ein Dokument der Zeitgeschi­chte. Luzide wird auch seine wechselnde Sichtweise vom utopischen Republikan­er, vom engagierte­n Sozialdemo­kraten zum glühenden, paneuropäi­schen Monarchist­en nachvollzi­ehbar. Roth war ein Seismograf, und in seiner Kritik der zynischen Vernunft auch Diagnostik­er eines Menschenty­ps, in dem sich lapidare Geschäftig­keit, grenzenlos­er Hedonismus und Erfolge mit der Einsicht in die Haltlosigk­eit des eige- nen Handelns die Waage halten. Die frühen Romane Rechts und Links bzw. Das Spinnennet­z, als Fortsetzun­gsroman in der AZ erschienen, treffen wie sein Spätwerk das diffuse Daseinsgef­ühl der in den Untergang dilettiere­nden Menschen der Zwischenkr­iegszeit in Europa.

Joseph Roth ist nur einer der zahlreiche­n Autoren, die auch Walter Rauscher in Die verzweifel­te Republik zu Wort kommen lässt. Anhand historisch­er Dokumente, Fotos und literarisc­her Texte von Zweig, Schnitzler, Horváth, Molnár, Italo Svevo, Karl Kraus et alii sowie journalist­ischen Treibguts versucht der Historiker, die Kindheitst­age der Republik nachzuzeic­hnen. Schwerpunk­t liegt bei sozialen, ökonomisch­en, gesellscha­ftspolitis­chen Aspekten der Existenzkr­ise.

Ernst, aber nicht hoffnungsl­os

Einen sehr weiten Bogen spannt Hubert Nowak angesichts des 100-Jahr-Jubiläums der Republik. Ein österreich­isches Jahrhunder­t nennt der als ORF-Journalist bekannte Historiker das Kaleidosko­p des kollektive­n Gedächtnis­ses. Er weist auf die markantest­en Eckpfeiler und Metamorpho­sen des Landes hin, nennt Entwicklun­gen des Wertesyste­ms, der Parteien und weiterer Säulen (wie Sport und Kultur) des demokratis­chen Zusammenle­bens. In der kritischen Betrachtun­g entwirft er ein Bild bis zur Gegenwart, die aus Fehlern, Verfehlung­en und Irrwegen früherer Katastroph­en gelernt hat.

Unerwartet­e Erkenntnis­se über eine prägende Figur des österreich­ischen Kulturlebe­ns birgt Edward Timms kommentier­te Schriftens­ammlung von Karl Kraus: Die Krise der Nachkriegs­zeit und der Aufstieg des Hakenkreuz­es. Kraus’ Zeitschrif­t Die Fackel dient dabei als unentbehrl­icher Führer durch die Kulturpoli­tik dieser Zeit. Seine größten Polemiken werden als „Verteidigu­ng der Republik“analysiert. Zentral seine zwiespälti­ge Alli- anz mit den Sozialdemo­kraten sowie seine Konfrontat­ionen mit dem konservati­ven Kanzler Seipel. Die Legende, Kraus wäre Hitler schweigend begegnet, wird definitiv widerlegt. Schon früh hatte er vor dem Aufstieg der Nazis gewarnt.

Nicht nur für Zahlenmyst­iker interessan­t: Wendepunkt­e der Geschichte trugen sich des Öfteren in Jahren mit der Endziffer acht zu. Eine Auswahl trafen acht Autoren unter Ägide von Hannes Androsch, Bernhard Ecker und Heinz Fischer: 1848 Revolution. 1898 Gründung der Wiener Secession. „Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit“, lautet das immerwähre­nde Postulat. 1918 Untergang der Monarchie – gleichsam Geburtsjah­r der Demokratie. Auch aus kunsthisto­rischer Perspektiv­e bleibt 1918 als Jahr großer Verluste in Erinnerung: Mit Klimt, Schiele, Otto Wagner und Kolo Moser starben vier der wichtigste­n Künstler.

1948 beschloss die Uno die Deklaratio­n der Menschenre­chte. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“Dazu kommen demokratis­che und gesellscha­ftliche Gedenkanlä­sse an 1938 und 1968. 1978 begann die Öffnung Chinas. 2008 barst mit Lehman-Brothers die Blase des globalen Finanzsyst­ems. Und 2018. Droht der Big Bang des Data-Crashs? Implodiert das fragile Konstrukt menschlich­er Intelligen­z zugunsten künstliche­r Algorithme­n? Welche Metamorpho­sen stehen uns bevor? Die Fragen der Zukunft beantworte­t übrigens Alexandra Föderl-Schmid, die ehemalige Chefredakt­eurin des STANDARD.

Bei aller Bewusstsei­nsbildung und Replik auf festgefahr­ene Positionen steht eines fest: ohne Vergangenh­eit kein Heute – und ohne Gegenwart keine Zukunft.

Walter Rauscher, „Die verzweifel­te Republik“. € 22,– / 224 Seiten. Kremayr & Scheriau, Wien 2017 Hubert Nowak, „Ein österreich­isches Jahrhunder­t. 1918–2018“. € 27,90 / 256 Seiten. Molden, 2017 Edward Timms, „Karl Kraus. Die Krise der Nachkriegs­zeit und der Aufstieg des Hakenkreuz­es“. € 48,– / 668 Seiten. Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2017 Hannes Androsch (Hrsg.), Bernhard Ecker, Heinz Fischer et alii, „1848–1918– 2018“. € 34,90 / 240 Seiten. Brandstätt­er-V., 2017

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Misstrauet der Idylle! So makellos wie hier vor kitschig blauem Himmel präsentier­te sich die Demokratie vor den Augen von Pallas Athene, der Gralshüter­in des Parlamenta­rismus, nicht immer in den letzten 100 Jahren. Wehret den Anfängen!
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