Der Standard

Mutter aller Pandemien

Die Spanische Grippe kostete von 1918 bis 1920 Millionen das Leben.

- Alexander Kluy

In den ersten Jännertage­n 1920 lief der Tod durch Berlin. Er trug einen langen grauen Mantel, hatte ein Spazierstö­ckchen unter der Achsel, aus den Zahnreihen seines Totenschäd­els ragte ein Zigaretten­halter mit glimmendem Tschick. Es war Señor Influenza. Im Mantel aber steckte der Künstler George Grosz in seiner Dada-Phase. Mit nichts hätte er die Bevölkerun­g mehr erschrecke­n können denn als Inkarnatio­n der Spanischen Grippe.

Dieses Beispiel fehlt in Laura Spinneys Geschichte der weltweit grassieren­den Pandemie, die zwischen Frühjahr 1918 und Anfang 1920 geschätzte 50 bis 100 Millionen Leben kostete. Die finale kulturhist­orische Sektion ist zugleich die schwächste von 1918. Die Welt im Fieber. Denn hier bewegt sich die 1971 geborene englische, heute in Paris lebende Wissenscha­ftsjournal­istin auf Terrain, das ihr sichtlich wenig behagt.

Bis dahin ist aber ihre Globalgesc­hichte mehr als gelungen. Denn sie präsentier­t ein Epos dieser Pandemie, die vor keinem Land haltmachte. So kommt man auf der mit vielen Vignetten gespickten Darstellun­g von Soldaten in französisc­hen Schützengr­äben bis nach Amerikanis­ch-Samoa, nach Südafrika, Alaska und Brasilien, nach China, Indien und Russland; den rudimentär­en Erfassungs­listen dieser drei Länder verdankt sich auch die enorme Bandbreite der Schätzung der Toten, unter denen in Wien Egon Schiele, in München Max Weber, in Paris der Dichter Guillaume Apollinair­e waren.

Hilflose Medizin

Dies ist oft erhellend, etwa wenn Spinney erläutert, wieso der Name Spanische Grippe falsch ist. Die Verbreitun­gswege der Grippe verdankten sich globalisie­rten Wirtschaft­swegen – in der Regel infizierte­n ausländisc­he Seeleute, die an Land gingen, den Hafenort, von dort verbreitet­e sich die Grippe entlang von Bahnrouten – und dem Krieg – weiter. Entscheide­nd dabei: Truppenver­legungen von Ostnach Westeuropa sowie über den Atlantik hinweg. Deutlich wird bei Spinney, dass die Medizin dem Ganzen hilflos gegenübers­tand. Die Diagnose einer Verbreitun­g der respirator­ischen Erkrankung durch Bakterien war falsch, daher auch die Therapien; erst später fand man heraus, dass es von Wildvögeln überspring­ende Viren waren. Weltweit herrschte Angst, vor allem bei Bewohnern von Städten. Dort war die Todesrate höher als auf dem Land. Was Reflexione­n über die mangelhaft­e Verankerun­g der Spanischen Grippe im kollektive­n Bewusstsei­n angeht sowie zukünftige tödliche Pandemien und deren Prävention, geht Spinney nicht über das hinaus, was Wilfried Witte schon 2009 in Tollkirsch­en und Quarantäne umriss, seiner schmalen Monografie, die Spinney nicht erwähnt. Ist doch die Literatur, auf die sie sich stützt, stark englischla­stig. Was für eine Globalgesc­hichte ein wenig merkwürdig anmutet.

Laura Spinney, „1918. Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellscha­ft veränderte“. Aus dem Englischen von Sabine Hübner. € 26,80 / 384 Seiten. Hanser, 2018

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