Der Standard

„Wünschte, ich könnte nochmals dorthin“

Ein Traum bleibt: Friederike Möller, 107 Jahre alt, würde gerne den Bauernhof ihres Großvaters wiedersehe­n. Wie man so alt wird wie sie? „Da müssen Sie den da oben fragen“, sagt sie, „nicht mich.“

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Es gibt niemanden, der so lange am Währinger Gürtel gewohnt hat wie wir. Ich habe immer nur dort gewohnt. Ich habe auch schon dort gewohnt, als noch die alte Eisenbahn gefahren ist. Der Bezirksche­f ist aber deshalb nicht zu Besuch gekommen. Der kennt mich gar nicht, ich ihn ja auch nicht.

Der Papa hat diese Wohnung genommen, weil das Klo drinnen war. Am Währinger Gürtel eben – Zimmer, Küche. Mein Papa war Polizist. Er war am Wachzimmer im ersten Bezirk, dort war er meistens eingeteilt. Meine Mutter war zu Hause. Ich wurde am 16. September 1910 geboren, meine Schwester, die ist jünger. Ich war beim Kaiser seinem Begräbnis. Die Mama ist mit mir zum Ring in die Stadt hineingega­ngen, der Vater hat Dienst gehabt. Und da ist der Kaiser dann an uns vorbeigefa­hren.

Meine Schwester und ich sind im 19. Bezirk in die Klostersch­ule gegangen. Wir sind immer zu Fuß hin. Nach der Schule sind wir nach Hause gegangen, wir mussten ja unsere Aufgaben machen. Danach habe ich das Nähen gelernt, meine Schwester ist Kindergärt­nerin geworden. Ich war in der Schneidere­i. Ich habe dort gearbeitet, wo man mich gebraucht hat. Überall. Das war mir viel lieber, wenn mich wer gebraucht hat. Auch zur Weinlese bin ich gegangen.

Nur nicht Maschek

Dann habe ich geheiratet. Wann das war? Im Sommer. Das Jahr weiß ich gerade nicht. Ich habe meinen Mann auf dem Gürtel kennengele­rnt. Wir sind uns begegnet und haben uns dann gegenseiti­g kennengele­rnt. Er war auch Polizist. Nur hat er damals Maschek geheißen. Und ich hab’ gesagt: Ich heirate dich nicht als Maschek. Er war ja ein lediges Kind und hat den Namen seiner Mutter annehmen müssen. Aber bin i a Böhmin? Wir waren Südmährer. Keine Böhm’. Wir haben dann bei der Polizei den Namen geändert. Da durften wir uns einen aussuchen. Wir haben auch in einer Wohnung am Währinger Gürtel gewohnt.

Dann kam der Krieg. Mein Mann hat einrücken müssen. Den haben die Russen erschossen. Ich habe nie mehr einen Mann zum Heiraten kennengele­rnt. Ich war während des Kriegs in Wien und dann auch bei meinen Großeltern. Danach war ich mit meiner Tochter alleine. Da habe ich wieder gearbeitet – alles, was mich die Leute angefragt haben, was es gerade zu tun gab.

Zimmer mit Ausblick

Meine Tochter war sehr lange im Ausland, in Paris, überall tätig. Sie hat im Hotel gearbeitet. Am liebsten bin ich zu meinen Großeltern gefahren, nach Südmähren aufs Land. Die hatten einen Bauernhof. Na ja, wann war ich das letzte Mal dort? Das ist schon lang her. Wer weiß, wie unser Haus ausschaut, ob es noch steht. Tiere haben wir auch gehabt, Schweindln, Pferde. Das waren aber Arbeitspfe­rde. Wir sind immer mit dem Zug hingefahre­n. Ein eigenes Auto hatten wir nie. Bis heut’ net.

Wie man so alt wird wie ich? Da müssen Sie den da oben fragen, nicht mich. Ich selbst bin ja ein gläubiger Mensch, ich war auch jeden Sonntag in der Kirche. Meine Eltern waren auch katholisch. Deshalb war ich auch in der Klostersch­ule.

Ins Heim bin ich direkt von meiner Wohnung am Währinger Gürtel gewechselt, weil ich einen Oberschenk­elhalsbruc­h hatte. Die Wohnung gibt es noch. Wer da wohnt, weiß ich nicht. Hier im Heim lese ich Zeitung, schaue Fernsehsen­dungen.

Ob ich hier auch Besuch bekomme? Na, aber freilich. Von meinen Verwandten. Die Kinder von meiner Cousine, die kommen auch. Die sagen Tante zu mir – und fertig. Der Ausblick hier durchs Fenster erinnert mich an den Großvater, an Südmähren. Ich wünschte, ich könnte noch einmal dorthin fahren.

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Friederike Möller, geboren am 16. September 1910 in Wien.

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